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Games – Auf den Spuren der Flüchtenden aus Afghanistan

Die Flucht aus einem Kriegsgebiet nach Europa ist für die Akteure kein Spiel. Games präsentiert fünf Fluchtgeschichten aus Afghanistan.

Alle Abbildungen © Splitter Verlag

In Games geht es um die Geschichten von fünf Geflüchteten aus Afghanistan: Ziya, Hamid, Muhammed, Nima und Afsaneh haben ihre Heimat aufgegeben, um in Europa ein neues Leben zu beginnen. Der Comic basiert auf authentischen Interviews mit den Geflüchteten und zeichnet deren Flucht aus verschiedenen Regionen Afghanistans über die Balkanroute bis nach Europa nach.

Hamid stammt aus der Nähe von Kabul. Der junge Paschtune wird von Taliban entführt, damit dieser sich als Selbstmordattentäter gegen die amerikanischen Besatzer zur Wehr setze. Ihm gelingt die Flucht und er kehrt zurück zu seiner Familie, die ihn sofort in Sicherheit bringen will und ihm einen Weg aus Afghanistan zu ermöglichen versucht. Sein Vater musste viel Geld auftreiben, damit Hamid zunächst in den Iran fliehen kann, wo Schlepper ihn hilflos in der Wüste aussetzen. Er gelangt letztlich doch über die Grenze bis in die Türkei und findet in Istanbul andere Afghanen, die sich gegenseitig unterstützen. Nach anderthalb Jahren als Arbeiter in einer Schuhsohlenfabrik hat er genug Geld verdient, um seine Flucht fortzusetzen. Die Grenzüberquerung nach Bulgarien erweist sich als schwieriger als erwartet: Immer wieder werden sie aufgegriffen, sei es im Bus oder zu Fuß, und zurück nach Istanbul gebracht. Überall erlebt Hamid die Gewalt der Autoritäten und die Freundlichkeit der hilfsbereiten Menschen. Letztlich landet er in der Schweiz, wo die Behörden zunächst anzweifeln, dass er tatsächlich aus Afghanistan stamme. Inzwischen arbeitet er im Service und wohnt mit Freunden in einer Wohngemeinschaft.

Muhammed ist in der Provinz Kunduz aufgewachsen und hat im Gegensatz zu Hamid keine Schulbildung. Als sein Onkel und seine Großmutter von Taliban erschossen werden, weil sie Maurerarbeiten für die Amerikaner durchgeführt haben, macht Muhammed sich auf den Weg zu einem Onkel nach Kabul, als dieser bei einem Sprengstoffanschlag seine Beine verliert. Zusammen mit seiner Familie beschließt er, die Heimat zu verlassen. Mithilfe von Schlepperbanden verlässt er das Land und schafft es bis in den Osten der Türkei, wo er von seiner Familie getrennt wird. Über die Balkanroute gelangt er zunächst nach Italien und schließlich in die Schweiz, wo er zunächst mit den psychischen Folgen der Belastungen zu kämpfen hatte. Seine Familie hat er seitdem nicht wiedergefunden.

Ziya berichtet von den Taliban, die den Schulunterricht bestimmten: „Scharia lesen, Scharia schreiben, nichts anderes.“ Zusammen mit seinem Vater verlässt sein Vater mit ihm für einige Jahre das Land, um nicht für die Taliban kämpfen zu müssen, und nach seiner Rückkehr absolviert er eine Ausbildung als Elektriker und arbeitet auf amerikanischen Militärbasen. Unter der Angst vor der Rache der Taliban leidend „wurde ich krank, psychisch“. Von seiner weiteren Flucht erfahren wir gar nicht allzuviel – schließlich landet er in der Schweiz und arbeitet dort als Elektriker.

Durch die Erzählung von Afsaneh nehmen wir auch die Perspektive einer jungen Frau wahr. Afsaneh wird als vierzehnjährig mit einem Mann verheiratet, den sie zuvor nicht kannte. Sie schildert die Einschränkungen für Frauen in ihrer Heimat ebenso wie im Iran, nicht zuletzt, weil ihr Mann kein gutes Leben gewährt, sie schlägt und ihr misstraut. Zusammen mit ihrem Mann, ihrer Tochter und einem weiteren, noch ungeborenen Kind macht Afsaneh sich auf den Weg nach Europa. Familien und Schwangere, so berichtet sie, seien besser behandelt worden als Alleinreisende. In der Schweiz angekommen lässt sie sich von ihrem Mann scheiden und beginnt eine Lehre, lernt Schwimmen und Fahrradfahren. Als Symbol ihrer neuen Unabhängigkeit sehen wir ihr Kopftuch davonflattern. „Ich fühlte mich endlich frei.“

Nima wiederum entstammt einer afghanischen Familie, lebt aber im Iran und arbeitet im Schlepper-Familienunternehmen, zuständig für die Buchhaltung. Er leidet unter der Feindseligkeit vieler Iraner gegenüber den dort lebenden Afghanen. „Eingang für Hunde und Afghanen verboten“ liest er auf einem Schild und hat so auch irgendwann vom Iran „die Nase voll“. An der türkischen Grenze wird er von Grenzhütern beschossen, aber es gelingt ihm, den Weg nach Westeuropa fortzusetzen. Inzwischen arbeitet er als Landschaftsgärtner und hat viele soziale Kontakte, aber seine Erwartungen wurden insgesamt nicht erfüllt.

Die Lebens- und Fluchtwege der fünf Personen werden nicht nacheinander erzählt, sondern so montiert, dass wir deren ähnliche Erfahrungen an den vergleichbaren Fluchtstationen zusammen lesen, oft einander bestätigend und verstärkend, manchmal setzen die Erzählungen aber auch unterschiedliche Akzente, vor allem ihre Erfahrungen mit der Gastfreundschaft in den einzelnen Regionen und abhängig vom eigenen Geschlecht, aber das Gesamtbild ist doch sehr ähnlich. Patrick Oberholzer, so sagt er selbst, hat aber auch weniger die Einzelschicksale in den Vordergrund stellen wollen, sondern vielmehr die Flucht als solches.

Durch die Montagen der verschiedenen Lebenswege fallen die Lücken der Einzelbiografien zunächst kaum auf, aber man folgt als Leser so auch eher dem gemeinsamen Weg als den Einzelschicksalen. In dem Arrangement erscheinen die fünf Individualgeschichten eher als eine Art Kollektivgeschichte. Manches Mal würde man sich Eingriffe des Interviewers wünschen, der nachhakt, wo etwas unklar bleibt, damit die Entscheidungen der Figuren nachvollziehbar werden: Wieso hat Muhammed eigentlich keinen Kontakt zu seiner Familie, wo doch alle mit Handys unterwegs waren und er auch den Kontakt in die Heimat noch aufrechterhält? Was hat es mit den mehrfachen Landeswechseln von Afsanehs Familie auf sich, und warum zog es ihren Ehemann in den Iran?

Was den Comic wiederum sehr lesenswert macht, sind die gründlichen Recherchen zu Zahlen und Fakten: Patrick Oberholzer hat zahlreiche Quellen herangezogen, um die Schicksale Einzelner in den Gesamtkontext der Fluchtbewegungen vor allem seit 2015 einzubetten. Das Ergebnis ist sehr anschaulich und gut ausgewählt.

Spiele

Der Titel Games irritiert zunächst, denn die Flucht aus einem Kriegs- oder Krisengebiet nach Europa hat auf den ersten Blick nichts Spielerisches. Auf dem vorderen Vorsatzblatt werden wir aber schon aufgeklärt, dass es nicht um Spielereien geht, und auf Seite 49 lesen wir es im Zusammenhang: „Games, so nennt man die Versuche, über eine Grenze zu kommen. Nicht im Sinne eines Spiels, aber im Sinne von ’sein Schicksal testen‘. Man kann ein Game gewinnen, aber auch verlieren. Manche Leute brauchen zwanzig oder vierzig Games, um es zu schaffen.“

Dieser Comic zählt ohne Frage zu den ‚relevanten Comics‘, d.h. zu einem Comic mit gesellschaftlich höchst aktuellem Inhalt – und der wichtigste Comic heißt praktischerweise auch so: Der wichtigste Comic der Welt (Panini). Nun denn: Wichtige Comics erschweren die Kritik allein durch das Thema, denn wie sollte man einen Comic, dessen gute Absichten offensichtlich sind, mit harter Kritik überziehen? Der Impuls, das Thema stärker zu gewichten als die Ausführung, ist sicher stark, und dies macht eine Einordnung nicht leichter.

Dieser Comic reiht sich, indem er individuelle Fluchtbiografien schildert, in eine Vielzahl von Comics ein, die sich diesem Thema auf unterschiedliche Weise nähern, den meisten ist aber die Authentizität der Schilderungen besonders wichtig. Vor allem seit den großen Fluchtbewegungen 2015 sind zahlreiche Titel erschienen.

Der junge Adil hat genug von der ideologischen Indoktrination, dem religiösen Fundamentalismus und der Gewalt (9603 Kilometer, © Cross Cult)

9603 Kilometer (Cross Cult) von Stéphane Marchetti und Cyrille Pomès schildert die Flucht zweier afghanischer Cousins nach England, darin verschiedene Erzählungen collagierend, in Flucht (be.bra) erzählt die Zeichnerin Anna Faroqhi die Geschichte von vier Geflüchteten, die nun in Berlin leben.

Die Liste der Comics über Fluchterfahrungen ist lang, vor allem seit 2015 wächst die Zahl vor allem authentischer Fluchtgeschichten rasch an.

Von den anderen Fluchtcomics setzt es sich durch den Fokus auf Zahlen und Fakten als Gegengewicht zu den individuellen Erzählungen ab, ebenso wie durch die Montage der einzelnen Stimmen zu einer Gesamt-Fluchterzählung mit eindrucksvollen Bildern.

Der dokumentarische Anspruch des schweizer Grafikers, der anhand von Fotografien seine Bildmotive recherchiert hat, zeigt sich auch an dem online verfügbaren Bonusmaterial: Es gibt auch Unterrichtsmaterial für Schüler:innen zwischen 14 und 18 Jahren zum Download.

Games wurde kürzlich für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2024 in der Sparte Sachbuch nominiert.

Die Gemeinsamkeiten des Individuellen

7von10Games – Auf den Spuren der Flüchtenden aus Afghanistan
Splitter Verlag, 2023
Text und Zeichnungen: Patrick Oberholzer
96 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-98721-253-6
Leseprobe

 

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