Mal wieder hat der männliche Kollege eine Gehaltserhöhung bekommen und du nicht? Du traust dich nicht mehr, nachts U-Bahn zu fahren, da du Angst hast, angegriffen zu werden?
In ihrem Comic Feminists in Progress: Ein Comic-Guide für Empowerment, Body Positivity und Vielfalt beschreibt die französische Autorin und Künstlerin Lauraine Meyer eine Situation, die viele Frauen in ihrem Leben schon erlebten – den Zeitpunkt, in dem sie den rosa-roten Blick auf die Welt verlieren und realisieren, dass die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen noch lange nicht erreicht ist: „Ja, denn bis dahin sagte ich mir: ‚Ach, na ja, eigentlich gibt es heute kaum noch Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, es geht uns doch gut!‘“ Bis sie das Buch Ödipus’ Schwester von Benoîte Groult las und realisierte, dass in der Menschheitsgeschichte nichts fragiler ist als die Rechte von Frauen. Das Buch inspirierte sie schließlich dazu, ihre eigenen Denkweisen zu überdenken und diesen Comic zu kreieren.
Meyer konstatiert, dass der Begriff „Feministin“ kein Schimpfwort sei, will in ihrem Comic mit Klischees wie den männerfeindlichen, humorlosen und haarigen Feministinnen aufräumen und thematisiert darin unter anderem die Geschichte des Feminismus, Alltagssexismus und Body Positivity. Das Buch erweist sich dabei als sehr wissenschaftlich.
Ihr Comic umfasst acht Kapitel: Feminismus, Sexismus, Geschlecht, Beziehungen, Körper, Sexualität, Mutterschaft und Don’t give up the fight, wobei es auch mehrere Unterkapitel gibt (z.B. Gender-Pay-Gap, Häusliche Gewalt und Die Vaterschaft). Sie spricht in ihrem Comic nicht nur ein weibliches Publikum an, sondern will auf humorvolle Weise einen modernen, inklusiven Feminismus für alle greifbar machen, wie Unterkapitel wie Feministische Männer zeigen.
Bei ihrem Buch handelt es sich nicht um eine lange, zusammenhängende Geschichte, sondern es illustriert in den einzelnen Kapiteln verschiedene Facetten des Feminismus. Genau so frei wie die Geschichte des Comics ist, ist auch dessen Gestaltung, da es keine herkömmlichen Panels gibt, sondern die Seiten einzigartig gestaltet sind, was eine individuelle Lesart begünstigt. Mit stereotypen Farben wie rosa und hellblau parodiert er dabei Geschlechterklischees. Da ihr Comic 229 Seiten umfasst, kann in dieser Rezension nur skizzenhaft auf die einzelnen Thematiken eingegangen werden und zwar werde ich die Unterkapitel Sexismus im Alltag und Erziehung näher beleuchten.
In dem Unterkapitel Sexismus im Alltag bezieht sich die Autorin zum einen auf prominente Personen und zum anderen auf – so scheint es – persönliche Erfahrungen, da sich die Autorin selbst in ihren Comic zeichnet und er so eine Metaebene erhält. Hinsichtlich prominenter Persönlichkeiten prangert sie beispielsweise den Satz „Beruhigen Sie sich!“ an, den Nicolas Sarkozy gegenüber Ségolène Royal im TV-Duell während der französischen Präsidentschaftswahl 2007 äußerte. Sie will damit auf das Klischee der „hysterischen Frau“ aufmerksam machen, das auch heutzutage noch besteht, sobald Frauen ihre Stimme erheben. Aber sobald ein Mann seine Stimme erhebt oder emotional wird, werde es vielmehr als Stärke oder Selbstbewusstsein angesehen. Aber nicht nur Frauen erleben Alltagssexismus, sondern auch Männer. So zeigt die Autorin in einer Illustration, wie eine Frau zu einem Mann sagt: „Ah, ein starker Mann, der mir beim Umzug helfen kann.“ Indem sie sowohl Sexismus von Männern gegenüber Frauen als auch Frauen gegenüber Männern thematisiert, zeigt die Autorin, wie sie die Definition des Begriffs „Feminismus“ versteht, nämlich, dass es um die Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern geht und nicht darum, dass ein Geschlecht das andere dominiert, auch wenn Frauen in unserer Gesellschaft noch stärker von Sexismus und Diskriminierung betroffen sind.
Comics wie der von Meyer sind gerade in unserer heutigen Zeit von Bedeutung, in der es in Europa einen Aufstieg von rechtspopulistischen Politiker*innen gibt, wie es jüngst die Wahl in den Niederlanden gezeigt hat. Denn rechtspopulistische Politiker*innen propagieren ein „traditionelles“ Familienbild, das stark von stereotypen Geschlechterrollen geprägt ist (z.B. Frau=Hausfrau, Mann=Versorger). Wenn Björn (Bernd) Höcke in seinen Reden davon spricht, dass Deutschland mehr „Männlichkeit“ brauche, merkt man als Frau schnell, dass feministische Errungenschaften, die über Jahrzehnte von Frauen erkämpft wurden, mit nur einem Schlag zerstört werden können.
In ihrem Comic spricht Meyer aber nicht nur solche Problematiken wie Sexismus an, sondern gibt auch Tipps, wie man ihm entgegensteuern und sich selbst in problematischen Situationen verhalten kann – nicht nur als Betroffene*r, auch als Zeug*in. Wenn man beispielsweise sieht, wie eine Frau in der U-Bahn oder S-Bahn begrapscht wird, aber als weibliche Zeugin von so einem Vorfall Angst hat, selbst einzuschreiten, solle man Fotos von der Tat machen. In dem Unterkapitel Erziehung geht sie darauf ein, wie wir alle daran beteiligt sind, dass Sexismus oder sexistische Stereotype und Verhaltensweisen aufrechterhalten werden, z.B. in der Schule.
So beeinflussen Stereotype Lehrer*innen und diese beeinflussen wiederum Kinder. So würden Mädchen z.B. schlecht in Sport sein, rosa und Prinzessinnenkleider mögen, könnten gut zeichnen und seien brav. Jungen dagegen würden gut in Informatik und Mathe sein, gern Fußball spielen, sich bei Raufereien beteiligen und seien laut. Auch in meiner Schulzeit ließen sich solche Stereotype in der Erziehung finden. So durften Jungen im Sportunterricht beispielsweise das ganze Jahr über Fußball spielen, während wir als Mädchen Geräteturnen, Tanzen oder Bodengymnastik machen mussten. Es wird also festgelegt, was „Frauen“- und was „Männer“-Sportarten sind und dass Frauen eher passiv und Männer aktiv sind.
Aber auch Stereotype wie „Jungen mögen Raufereien“ entwickelten sich nach Meyer zu gefährlichen Denkweisen, die dazu führen, dass Männer zu Gewalttätern und Vergewaltigern erzogen werden. Auch in Deutschland wird sehr selten in den Nachrichten darüber berichtet, dass nach Kriminalstatistiken jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet wird. Meyer will damit sagen, dass Männer nicht „von Natur aus“ gewalttätiger sind als Frauen, sondern es ihnen anerzogen wird.
Das Unterkapitel Erziehung ist Teil des letzten Kapitels des Comics, Don’t give up the fight, worin sie unter anderem zu Solidarität und Empowerment aufruft. Sie schließt das Buch darin mit einer Illustration ab, die eine Pyramide von Frauen, genauer gesagt berühmten Feministinnen wie unter anderem Simone de Beauvoir zeigt – und jede steht dabei symbolisch auf den Schultern der nächsten. Über und unter der Illustration schreibt Lauraine Meyer den Satz „Und jetzt… seid ihr dran!“ und spielt den Ball an die Leser*innen weiter. Als Leserin frage ich mich jetzt, was ich heute noch dafür tun kann, um Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen weiter voranzutreiben – und werde meiner dreijährigen Nichte erstmal ein blaues Auto als Weihnachtsgeschenk kaufen.
Und jetzt… sind wir dran!
Carlsen, 2023
Text und Zeichnungen: Lauraine Meyer
Übersetzung: Marion Herbert
229 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 26,00 Euro
ISBN: 978-3551726506
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