Ein Hauch von Manu Larcenets Blast weht durch diesen Comic, wenn er von einem sehr, sehr großen Mann am Rand der Gesellschaft handelt.
Ralf Marczincziks übergewichtiger Outlaw fährt lebenslänglich ins Gefängnis ein und ist fest entschlossen, den Rest seines Lebens dort in Würde zu verbringen. Das Leben draußen ist kompliziert, im Knast dagegen hat alles seine Ordnung – man muss die Dinge nur etwas langsamer und gelassener tun, der Rest erledigt sich von selbst. Macht er sich etwas vor? Aber dann schließt er Freundschaft mit einem Mithäftling und bald findet er einen neuen Lebenswillen, so dass er den Knast doch lieber hinter sich lassen würde.
Man kann Digger auf zwei Ebenen lesen. Einmal als Klartext, Wort für Wort, Bild für Bild. Man kann aber auch die Allegorie auf Allgemeingültiges sehen. Beide Lesarten stützen sich gegenseitig, ergänzen und bereichern sich. Manchmal hat Ralf Marczincziks Poesie etwas kalenderspruchartiges im Stil von „Das Leben ist eine Pralinenschachtel“. Aber Digger hat mehr zu bieten.
Digger im Klartext
Nehmen wir Digger zuerst mal wörtlich und sehen darin eine Geschichte über Gefangene im Strafvollzug. Auch der Comic-Künstler Steff Murschetz, der das Nachwort geschrieben hat, nimmt die Knast-Prämisse ernst und erzählt in seinem Beitrag über seine eigenen Erfahrungen mit Strafgefangenen. Steff Murschetz ist nicht nur für seine Arbeit an U-Comix, sondern auch für seine Tattoo-Entwürfe bekannt geworden, Gefängnisinsassen hat er diese immer wieder kostenfrei zur Verfügung gestellt. Er erzählt von einem Lebenslänglichen, der ihm mal erklärt habe, dass „die meisten Häftlinge dort gelandet seien, weil sie versucht hätten, Probleme und Ungerechtigkeiten in ihrer Welt mit den falschen Mitteln zu bewältigen.“ Steff Murschetz will damit nicht die Notwendigkeit von Sühne relativieren, arbeitet aber prägnant heraus, dass die Welt der Gefängnisse ein weites Feld darstellt und Menschen verschiedenster Couleur dort teils einen großen Teil ihres Lebens verbringen. Ihnen deswegen die Würde abzusprechen ist unangebracht.
Marczincziks Digger ist in Teilen eine Erzählung über den Kampf um die Würde, die wir dem Dicken zugestehen müssen, selbst wenn wir nie erfahren, weshalb er denn eigentlich im Gefängnis ist – von sich selbst behauptet er nur, dass er es verdient habe. Steff Murschetz schreibt weiterhin, dass viele Haftinsassen „nach ihrer Freilassung wieder in alte Muster zurückfallen, da sie keinen anderen Ausweg fänden.“ Kriminalität kann einen demnach befallen wie eine Krankheit und es ist nicht selten schwierig bis unmöglich, sich aus eigener Kraft aus dem Sumpf zu ziehen.
Der Bezug auf solche Erfahrungen gibt Digger eine realistische Erdung und konfrontiert uns mit unseren eigenen Vorurteilen: Wie positionieren wir uns gegenüber Knackis, über deren Vergangenheit wir im Unklaren sind? Und wie positionieren wir uns gegenüber ihnen angesichts der politischen Realität von 2024, in der wir uns bereits unversöhnlich zeigen gegenüber Menschen, die die falsche Partei wählen? Ab wann sprechen wir jemandem die Menschenwürde ab? Wann driften wir ins Selbstgefällige ab? Ab wann sind wir bereit, Gnade zu gewähren?
Digger als Allegorie
Andererseits ist der Knast in Digger in Form einer felsigen Gefängnisinsel ebenso symbol- wie klischeehaft, ebenso archetypisch wie allegorisch. Von der ersten Szene an stellt sich die Frage, wie man mit der eigenen Erfahrungswelt am Gefängnisgedanken andocken kann. Selbstverschuldete Passivität kann das restliches Leben zu einer Art Gefängnis machen. Du hast versäumt, dein Leben rechtzeitig auf die Reihe zu kriegen, das Strafmaß dafür: Lebenslänglich, die verdiente Strafe für Trägheit. Auch Krankheit kann dein Leben zu einer Art Gefängnis machen und dir abverlangen, dass du deine Mauern neu betrachtest und neu bewertest. Unverdient diesmal, aber nicht weniger eine Herausforderung fürs Leben.
Ralf Marczinczik hatte die Idee zu Digger während des Corona-Lockdowns, was in mehrfacher Hinsicht Sinn macht:
1. Man wurde in eine existenzielle Isolation gezwungen.
2. Die Maßnahme wurde autoritär angeordnet.
3. Je nach persönlicher Verfasstheit konnte man sich fügen, es akzeptieren, absolut richtig finden oder daran verzweifeln.
Im Splitter-Podcast erzählt Ralf Marczinzcik von den vielen Vorsätzen, die man sich während der Lockdown-Zeit gemacht hat. Dass man jetzt, wo man Zeit hat, endlich seinen Körper trainiert oder endlich sein großes Werk in Angriff nimmt. Am Ende waren die meisten nur Netflix-Junkies und Couch-Potatoes. Trotzdem: Die Idee des persönlichen Wandels im Verborgenen hat ihn inspiriert, daraus eine eigene – allegorische – Erzählung zu stricken.
Zum Glück gerät Ralf Marczinczik nicht in die Falle, eine gute Idee vorschnell ohne Idee für eine tragfähige Story zu verbraten. Schnell wird erkennbar, dass der Künstler seine Story mit großer Sorgfalt konzipiert hat. Ralf Marczinczik leitet schon seit vielen Jahren das Comicseminar in Erlangen und ist auch anderweitig schon als Dozent für grafisch-künstlerische Angelegenheiten in Erscheinung getreten. Jetzt hat er mit seiner ersten fertigen Graphic Novel sein ganz persönliches Bäumchen gepflanzt.
Handwerklich überzeugt Digger mit sehr polierter, reduzierter Grafik, ein bisschen erinnert der Stil an den Amerikaner Kyle Baker. Etwas sehr reduziert ist die Erzählumgebung Gefängnisinsel geraten, auf der nur ganz wenige Insassen und Wärter sichtbar sind. Da wird dann schon sehr deutlich, dass persönliche Isolation und Selbstbespiegelung das Thema ist, nicht die Interaktion mit der Außenwelt. Warum auch Figuren zeichnen, die die Geschichte nicht voranbringen? Jede Darstellung ist auf Effizienz getrimmt, um das erzählerische Anliegen voranzubringen. Das ist häufig visuell beeindruckend, beispielsweise, wenn Digger zwanghaft sein Leben mit Zahlen strukturiert, manchmal wirkt es auch etwas konstruiert. Das aber von einem Architekten, der weiß, was er tut.
Lebenslänglich ist kein Urteil, sondern eine Herausforderung.
Kult Comics, 2024
Text und Zeichnungen: Ramar
192 Seiten, schwarz-weiß mit Farbakzenten, Hardcover
Preis: 25 Euro
ISBN: 978-3964303202
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