Etwas Piratenromantik, ein wenig Gruselgeschichte und eine rationale Detektivgeschichte – die Adaption von Edgar Allan Poes Goldkäfer hat viele Facetten.
Edgar Allan Poe gehört zu den Klassikern der amerikanischen Literaturgeschichte, nicht zuletzt auch außerhalb von Schulen und Universitäten, weil sein Werk nicht nur als literaturgeschichtlich bedeutend eingeschätzt wird, sondern zudem sehr gut gealtert ist und somit für neugierige Leser:innen ohne Anglistikstudium zugänglich bleibt. Poes Ruhm liegt begründet in seinen Kriminalerzählungen (The Murders in the Rue Morgue, 1841), seinen Schauergeschichten (The Fall of the House of Usher, 1839) und natürlich auch seinen Gedichten (The Raven, 1845).
Im Schatten seiner berühmten Stories The Tell-Tale Heart (1843) oder The Purloined Letter (1845) bzw. seines Romans Arthur Gordon Pym (1838) könnte man The Gold-Bug, 1843 in dem Philadelphia Dollar Newspaper erschienen, fast übersehen. Dabei zählt die Geschichte, mit der Poe an einem Wettbewerb erfolgreich teilnahm und 100 Dollar gewann, zu den beliebtesten Texten des Schriftstellers zu dessen Lebzeiten. Und auch die recht frühen Übersetzungen ins Französische und Deutsche sprechen dafür, dass diese Geschichte über Kryptographie schon immer äußerst gefragt war.
Die Geschichte handelt von dem zurückgezogen lebenden William Legrand, der eines Tages einen goldenen Käfer entdeckt und einem Freund, dem Erzähler, eine Zeichnung von diesem Käfer anfertigt. Legrand hinterlässt einen seltsamen Eindruck auf den Besucher, ganz passend zu der selbstgewählten Wohnstätte jenseits aller Zivilisation.
Einen Monat später schickt Legrand seinen Diener nach seinem Freund, um ihn zu Hilfe zu holen. Inzwischen wirkt Legrand besessen von dem Käfer und einem mysteriösen Geheimnis, das weder der Freund noch wir Leser:innen zu diesem Zeitpunkt durchschauen können. Wie eine Schauergeschichte über die Verführbarkeit durch teuflische Mächte oder den Glanz des Goldes beginnt diese Geschichte. Legrand nimmt seinen Diener Jupiter und den Erzähler mit auf eine abenteuerliche Reise, auf der scheinbar magische Rituale durchgeführt werden, bis sie schließlich in einer Grube auf einen Piratenschatz stoßen: „Auf einmal sahen wir vor uns einen riesigen Haufen Gold und Schmuckstücke von unschätzbarem Wert.“
In der Mitte der Erzählung werden unsere Genre-Erwartungen jäh durchkreuzt. Was als eine Geschichte in der Tradition der gothic fiction mit fantastischen Elementen beginnt, wird schließlich vollständig rationalisiert und in eine penibel argumentierende Detektivgeschichte überführt: William Legrand entwickelt sich vom besessenen Goldsucher zum Meister der Deduktion. Er bemerkt auf der Rückseite seiner Zeichnung eine weitere Zeichnung und schließlich auch Schriftzeichen, die es erst zu dekodieren gilt. Legrand erläutert die Entzifferung des Codes im Detail, so gründlich wie Poe nur wenige Jahre später in seinem Essay The Philosophy of Composition die Entstehung seiner Ballade The Raven logisch herleitet.
Legrand entpuppt sich als Vorläufer von Sherlock Holmes – kein Wunder, gilt Poe doch als ein Begründer der modernen Detektivgeschichte. Der Goldkäfer bedient sich der Motive der Schauerliteratur und der Struktur der Detektivgeschichte – und das gilt für die literarische Vorlage wie auch die Adaption von Corbeyran (Szenario) und Paul Marcel (Zeichnungen).
Sehr treffend zeichnet Marcel Legrand anfangs wie einen Teufelsjünger, mit rotlockigem Haar, das den Eindruck erweckt, der besessene Legrand würde Hörner tragen. Die wilde Natur, fast undurchdringlich für die Abenteuergruppe, scheint nach den Neugierigen zu greifen.
Corbeyran hat viel Rücksicht auf das Original genommen, und so endet der Comic ebenso abrupt wie die Erzählung ohne gelungene Pointe. Der größte Eingriff Corbeyrans ist sicherlich die Neutralisierung der im Original rassistischen Darstellung des Dieners Jupiter.
Sicher ließe sich (schon bei Poes Vorlage!) die Logik der Schnitzeljagd in Frage stellen, denn warum sollte der Piratenschatz zunächst versteckt und dann auf diese allzu abenteuerliche Weise wieder auffindbar gemacht werden? Die deduktive Herleitung Legrands verliert an Plausibilität, wenn man sie umdreht und aus der Perspektive des Rätselerfinders betrachtet.
Die Geschichte vom Goldkäfer ist ein Literaturklassiker sondergleichen, dessen Reiz manches Mal jedoch auch darin besteht, dass wir nur die Worte vor uns haben, die Zeichnung des Käfers (der von oben wie ein Totenschädel aussieht) aber gerade nicht sehen.
Der Goldkäfer, übrigens auch in der Reihe Classics Illustrated adaptiert, erschien zuerst 2012 bei Delcourt (Le Scarabée d’or). Seit 2024 ist er auch deutschen Leser:innen verfügbar. Kein Höhepunkt der Adaptionskunst, aber ein zeitloser Klassiker, der den Medientransfer gut überstanden hat.
Halb Schauer-, halb Detektivgeschichte
Knesebeck Verlag, 2024
Text und Zeichnungen: Corbeyran, Paul Marcel
Übersetzung: Svenja Tengs
48 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-95728-788-5
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