Gut und enttäuschend: Jeff Lemire und Andrea Sorrentino bauen ihr Horror-Universum weiter aus.
Sieben Bewohner*innen eines scheinbar einfachen schäbigen Mietshauses sausen samt Haus in die Hölle und stellen sich dort einem uralten Bösen.
Das Personal wirkt vertraut: Wir haben den jungen Nerd mit der überbesorgten Mutter, den Spielsüchtigen mit der todkranken Frau, die sexy Drogensüchtige, ihren Jugendfreund und deren insgeheim romantische On/Off-Affäre, den Wirtschaftstyp mit dem nur scheinbar erkalteten Herzen und die arrogante Künstlerin, die früher immer brutal gemobbt wurde. Sie offenbaren uns und einander ihre Geheimnisse, während sie sich vor sporadisch auftauchenden Monstern verstecken oder durch Alptraumlandschaften irren. Die rudimentäre Rahmenhandlung: der junge Nerd erbt von einem geheimnisvollen Nachbarn (leider ein alter Afroamerikaner, was nicht nur wegen der xten Verbeugung vor The Shining ein problematisches Klischee ist) ohne Erklärung einen Schlüssel. Das Miethaus stürzt samt oben beschriebener Truppe in eine von schemenhaften Kreaturen bevölkerte Unterwelt, der Schlüssel schließt dort einen geheimen Bereich auf, mehrere unserer Figuren sterben oder sterben scheinbar, entweder im heldenhaften Opfertod oder in einer jämmerlichen Kapitulation vor dem Bösen, es gibt einen kleinen Plot-Twist und eine Konfrontation mit einem lovecraftschen fiesen Gott. Es gibt gigantische Fliegenmonster, monumentale unterirdische Tempelanlagen, knorrige Riesenbäume, von denen verdrehte Leichen herabbaumeln. Das Ende ist offen, aber wir haben viel gelernt, über Menschen, ihre Abgründe und ihre Sternstunden unter Druck.
Verkrachte Existenzen mit zarten Gefühlen stolpern durch bedeutungsschwangere surreale Welten, die sich gleich um die Ecke vom Alltag auftun. So geht anspruchsvoller Horror, aber neu ist das nicht, und das gab es auch schon mal besser.
Jeff Lemires Stern ging auf, als er die theoretisch ganz schön dumme Justice League Dark mit Themen und Untertönen anreicherte, die überraschend tief durch Mark und Bein gingen. Danach kreierte er Sweet Tooth und sicherte sich damit ein bisschen Unsterblichkeit. Lemires Stärke sind Nuancen, erzählerische wie emotionale, kleine Drehs und Verdichtungen, die aus Klischees etwas Neues und Wahrhaftiges machen können, was längst einmal gesagt werden musste.
Andrea Sorrentino hat an diversen Batman-Spezialprojekten gearbeitet, vor allem aber hat er, u.a. für Lemire, an Old Man Logan gezeichnet, den allenthalben umjubelten Spätwestern mit einem sterbenden Wolverine, der auch ziemlich nahe an der Vorlage als Logan verfilmt wurde. Sorrentinos Spezialität sind die unwirklichen mehrschichtigen Hintergründe aus Farben und Mustern, die sich ästhetisch und bedeutungsvoll hinter seinen verfremdet fotorealistischen Figuren und Szenen auftun.
Gemeinsam haben Lemire und Sorrentino den Noir-Horror Gideon Falls aus der Taufe gehoben, nach dessen Abschluss wagten sie sich an ihr – laut Verlag – „Hauptwerk“: den über verschiedene Bücher und Miniserien verstreuten „Bone Orchard-Mythos“.
Begeistert es irgend jemanden, zu erfahren, dass Das Mietshaus das dritte Werk in diesem Zyklus ist (alle Teile unabhängig voneinander lesbar)? Ist irgendjemand wild darauf, in noch ein mäanderndes fiktionales Universum einzusteigen? Unter den derzeit in den erzählenden Medien beliebten schlechten Ideen sind Franchises immer noch die beliebteste und schlechteste: Jedes zweite alternative Vorlesebuch für die Kleinsten ist gleich Teil des „verrückten Universums von Familie Knuselbussel“, zu dem auch ein Geschichtenbuch für Zweitklässler und ein Kinderkrimi gehören, Solch ein Universum ist in der Regel in etwa so verrückt und notwendig wie eine Zahnfleischtasche, und wer sich auch nur vage an Dumbledores Geheimnisse erinnern kann, ist zu bedauern und selber schuld (und das hat nichts damit zu tun, an wie viele Geschlechter J.K. Rowling glaubt). Bis sich herumgesprochen hat, dass wir nicht alle immer gleich ganze Abos abschließen und verästelte fiktive Familien durcharbeiten wollen, bevor wir eine kleine Geschichte genießen dürfen, werden noch viele nachfragelos erfundene Geschichtenuniversen verpuffen.
Der Bone-Orchard-Mythos ist nun eine Lovecraft-Variation: Hinter und unter unserer Welt wartet seit Ewigkeiten eine weitere voller grausiger Überwesen und lockt die Schwachen und die Neugierigen an. Die Passage, Buch 1 des Bone-Orchard-Zyklus, war ein hübscher Horrorhappen über eine Grube auf einer Insel, ein perfekter Prolog mit expressiven Bildern, in zehn Minuten unter interessiertem Gruseln durchgelesen, und viel war dazu noch nicht zu sagen. Der Nachfolger Zehntausend schwarze Federn über zwei einsame Mädchen, die beim Fantasy-Rollenspiel auf eine andere Wirklichkeit stoßen, war Butter bei die Fische und viel besser: Eine Mischung aus Heavenly Creatures, Life Is Strange und dem Kinofilm Twin Peaks: Fire Walk with Me, die der Welt doch noch gefehlt hatte, aber etwas plötzlich und unbefriedigend abbrach.
Das Mietshaus, eine sechsteilige Miniserie, aufgebunden in einem ordentlich schweren Klotz von Buch, will nun multiperspektivisch und aus der Untersicht eine ganze dunkle Mythologie enthüllen, aber ist vor allem leer (genau wie das Haus).
Das ist ein guter Horror-Comic. Noch vor zehn Jahren hätte ich diese Miniserie als Abo bestellt und vor 20 Jahren hätte ich jedem neuen Kapitel sehnsüchtig entgegengefiebert. Dann wäre diese Mischung aus Spülsteinrealismus, Urban Fantasy und Lovecraft aber nicht nur noch neuartiger gewesen, sondern auch vermutlich sorgfältiger geschrieben und gezeichnet. Dieser düstere Magische Realismus lebt von seinen Details, von den überraschenden punktgenauen Alltagsbeobachtungen, genauso wie von den ambivalenten Gefühlen, die sich auf Gesichtern spiegeln und von dunklen Ecken, die gleichzeitig verführerisch und furchteinflößend sind.
Lemire, der Entdecker bisher übersehener Traumata, erzählt straight und überraschungsarm an den Klischees entlang, die Seifenopern und die Mehrpersonenbücher von Stephen King verbinden. Alle Figuren reden so direkt, unverstellt und themenorientiert über ihre Krisen, wie es echte Menschen glücklicherweise nicht mal dann tun, wenn sie frisch aus einer Therapiestunde kommen. Sie haben jede Menge Probleme, aber niemand besitzt einen nennenswerten Charakter, und jedes einzelne Panel von Sweet Tooth besitzt mehr Witz als diese 300 Seiten.
Frustrierender sind nur die Bilder von Sorrentino: die matschfarbenen Höllenlandschaften, die verstörend angeordneten Ensembles aus bspw. Kühlschränken und Lavagruben und davor Menschen, die an übermalte Fotos von exaltierten Stummfilmschauspielern in zeitgenössischen Outfits erinnern, sie zeugen schon von einem interessanten und schmissigen Konzept. Doch konkret sind die Panels ziemlich öde, ohne die filigranen Muster, die verwirrenden Farbspiele, die Textur und die wilden Perspektiven von Sorrentinos besten Arbeiten. Dass Gesichter manchmal 1:1 wiederverwendet werden, ist nicht das Problem (das haben schon andere gemacht). Dass es unklar bleibt, ob wir das bemerken sollen oder nicht und was dieses Vorgehen auslösen oder ausdrücken soll, das ist eines.
Neil Gaiman witzelte einmal, junge Comicnerds würden denken, er würde eine Spezialausgabe sorgfältiger schreiben als eine reguläre Sandman-Nummer und offensichtlich annehmen, er arbeite gezielt manchmal unter seinem besten Niveau oder wäre überhaupt in der Lage, das bewusst zu tun.
Beim Mietshaus scheinen dagegen allerdings tatsächlich zwei Meister über weite Strecken fahrig und nachlässig zweitbeste Ware abzuliefern. Mindestens zwanzig berückende Seiten stecken in diesem Trumm von Album, es sind vor allem die, die fernab der schlichten Geschichte kurz in andere Stile, Zeiten und Welten führen (in die Hintergründe, den „Mythos“, wohin auch sonst). Das ist ein bisschen wenig für eine Zeit, in der gute unheimliche Mehrteiler ohne Tamtam neu bei Streamern erscheinen und einem großartige avantgardistische Horrorromane digital für einen Euro hinterhergeworfen werden. Aber diese Gleichzeitigkeit ist ganz sicher kein Zufall: Eben in dieser für solche Comics nicht gerade einfachen Zeit (wie lange ist das Vertigo-Label jetzt schon tot?) setzen Lemire und Sorrentino auf das meiner Meinung nach falsche Pferd: ein Franchise. Und nun müssen sie einen „Mythos“ vollkriegen und können nicht die Comics abliefern, zu denen sie eigentlich in der Lage wären. So etwas ist, in meinen Augen, viel, viel ärgerlicher als ein unbeholfenes Debüt oder ein misslungenes Experiment.
Aber: Das ist ein guter Horror-Comic. Psychologisch, psychedelisch, abendfüllend. Und die diskret prächtige Ausstattung von Splitter lässt einmal mehr keinerlei Wünsche offen. Es fehlt hier ganz einfach nur etwas.
Unter dem Mietshaus wartet die Alptraumwelt, die unsere Menschlichkeit testet: erschreckend solider Urban Horror.
Splitter, 2024
Text und Szenario: Jeff Lemire
Zeichnungen: Andrea Sorrentino
Übersetzung: Bernd Kronsbein
328 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 39,90 Euro
ISBN: 978-3-98721-155-3