Blair Witch meets 5 Freunde à la Lovecraft … oder so ähnlich. In „The Cull“ geht es um Jugendliche, die ein wenig Abenteuer suchen und stattdessen die Hölle entdecken. Oder so ähnlich.
Genaugenommen haben die fünf jungen Menschen ganz verschiedene Ziele, als sie mitten in der Nacht aufbrechen, ihre Elternhäuser hinter sich lassen und sich ins Dunkel hinauswagen. Vier von ihnen suchen die optimalen Lichtbedingungen, um die Felsformationen am Black Water Beach bei Sonnenaufgang zu filmen. Cleo aber sucht ihren vermissten Bruder.
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Mit den Smiley-Flaggen hat es eine Bewandtnis, die man erst am Ende des Bandes versteht. Überhaupt verstecken die Künster:innen einige Details in den Bildern, etwa die angeritzten Unterarme, die nur bei genauerem Hinsehen zu erkennen sind.
Als sie in einem der Felsen den Zugang zu einer fremden Welt mit rosa Himmel und seltsamen Lebensformen entdecken, haben sie alle nasse Hosenbeine, aber keine kalten Füße. Ihr Mut wird sogar belohnt, als ein magischer Formwandelpanda (ja, genau) ihnen übermenschliche Kräfte verleiht. Nur Cleo erweckt sein Misstrauen, denn er erkennt, dass sie andere Ziele verfolgt als ihre Freunde. Es kommt zu einem kurzen Kampf, und die Teenager flüchten zurück zu dem Felsportal, um in ihre Welt zurück zu gelangen. Womöglich vergeht aber die Zeit in beiden Welten unterschiedlich, und so erklärt es sich auch zunächst, dass sie ihre Heimat verändert vorfinden.
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Vorher / Nachher. Als sie von ihrer Expedition zurückkehren, ist alles verändert, nicht nur sie selbst.
Die Verlagsankündigung bringt bei der Beschreibung der Story Lovecraft ins Spiel, jenen schwülstigen Altmeister des raunenden Tentakelhorrors, um Appetit auf den Band zu machen. Das ist auf den ersten Blick eigentlich nicht naheliegend, weil die Lovecraft-Monster (unsäglich, unaussprechlich, unvorstellbar) sich jedem Zugriff und jeder Orthographie entziehen, wohingegen der Panda eigentlich ganz greifbar und niedlich erscheint. Die „Großen Alten“ fehlen bislang in dieser Story, und auch das heruntergekommene Setting der küstennahen Lovecraft-Welten ist nicht allzu dicht an „The Cull“. Auch die magischen Elemente (fliegende Teenager mit Energieblick-Superpower) lassen sich mit den Mythen rund um Cthulhu und Konsorten nicht vereinbaren, ebenso ist das riesige Strandmonster, für alle sichtbar, kein klassisches Lovecraft-Accessoire. Das Wasser allein ist noch etwas wenig, aber vielleicht klären uns die folgenden Bände darüber auf. Als es mit einer Kamera losging, konnte man „Blair Witch Project“ vermuten, aber am Ende ist The Cull etwas sehr, sehr eigenständiges. Mit Lovecraft lässt sich auf jeden Fall Aufmerksamkeit erzeugen, gerade im Comicbereich boomen Lovecraft-Anspielungen oder –Adaptionen gerade.
Aber ganz unabhängig von HPL: Die Geschichte der mehrfach Eisner-Award-prämierten Kelly Thompson kreist bisher weniger um die Monster, sondern eher um die verschiedenen Sorgen der Jugendlichen – entfernt an Stephen Kings „Die Leiche“ (1982) bzw. dessen Verfilmung „Stand by Me“ (1986) erinnernd. Das Personengeflecht ist wirklich nicht sehr eindimensional, und der Band lässt sich mit der Einführung entsprechend viel Zeit. Es ist keine actiongeladene Alienhatz und auch nicht überladen von abstrusen parawissenschaftlichen Erklärungsversuchen, sondern lässt die Leser:innen ganz allein in dieser fremden Welt. Und der Twist am Ende des fünften Kapitels erfüllt seine Cliffhangerfunktion ausgesprochen gut.
Die beeindruckenden Zeichnungen von Mattia de Iulis sind sehr naturalistisch und reich an realistischen Lichteffekten, wie man das von dem italienischen Künstler kennt. Das einförmige Seitenlayout allerdings könnte kaum langweiliger sein. Jedes Panel erstreckt sich über die ganze Seitenbreite, so dass der Comic eher wie das Storyboard eines Filmprojekts aussieht als eine Erzählung, die sich mit der Bandbreite an medienspezifischen Darstellungsmöglichkeiten auseinandersetzt. Natürlich muss nicht jeder Comic ein Formalexperiment sein, aber diese Uniformität ist wiederum auch ein Statement. Dabei wäre doch gerade die Konfrontation der „Realität“ mit der anderen Welt ein geeigneter Moment, um die Welt auch formal aus den Fugen geraten zu lassen.
2024 wurde „The Cull“ für mehrere Eisner Awards nominiert, in der Kategorie „Best Limited Series“ und Kelly Thompson in der Kategorie „Best Writer“. Außerdem wurde Hassan Otsmane-Elhaou für sein Lettering mit einem Eisner Award prämiert – in diesem Youtube-Video erfährt man mehr über dessen Lettering, das in The Cull nicht so aufregend ist wie etwa in der Image-Serie Above Snakes. The Cull erscheint seit August 2023 bei Image Comics, und die deutsche Ausgabe ist zeitlich voll auf der Höhe, denn sie versammelt alle fünf bisher erschienenen Ausgaben. Die Serie ist so rätselhaft, dass ein Blick in den zweiten Band sinnvoll sein wird, wenngleich das noch etwas zu dauern scheint.
Mehr Thompson als Lovecraft
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Splitter Verlag, 2024
Text und Zeichnungen: Kelly Thompson, Mattia de Iulis
Übersetzung: Bernd Kronsbein
144 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 29,80 Euro
ISBN: 978-3-98721-392-2
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