Keine Biografie. Keine Literaturadaption. Keine tagesaktuellen Themen wie KI oder Politik. Ballade für Sophie ist eine zeitlose Geschichte ohne Pauken und Trompeten.
Die fiktive Geschichte spielt im Jahr 1997. Die französische Journalistin Adeline Jourd sucht den gealterten und zurückgezogen lebenden Showmusiker Eric Bonjour, aber sie findet den Rentner Julien Dubois. Schon bei der ersten Begegnung zwischen Adeline und Dubois stoßen Welten aufeinander. Als Adeline das prächtige Haus betritt, sehen wir zunächst eine Büste des Musikers – aber was für ein anderes Bild bietet der alte Mann, der sie kurz darauf empfängt? Ein zerzauster Eigenbrötler anstelle des charmanten Showstars – nicht nur prallen Realität und Fiktion hier aufeinander, sondern auch, wie uns nun klar wird, Vergangenheit und Gegenwart, denn Dubois musizierte unter dem Künstlernamen Eric Bonjour. Die folgende Geschichte erzählt Dubois nun Adeline und damit uns Leser:innen in immer wieder unterbrochenen Rückblenden.
Wir reisen in Dubois‘ Erinnerungen zurück in seine Kindheit, als seine strenge und ambitionierte Mutter von ihm verlangte, das Klavierspielen zu lernen. „Manchmal mehr als zehn Stunden am Tag.“ Bei einem nationalen Klavierwettbewerb wähnt er sich schon fast als Sieger, als plötzlich der Sohn des Theater-Hausmeisters auf die Bühne steigt. Der Autodidakt aus armem Hause, Francois Simon, begeistert die Zuhörer:innen und gewinnt den Wettbewerb nur deshalb nicht, weil Dubois‘ Mutter die Juroren großzügig bestochen hatte. Die Rivalität mit Simon wird ihn sein Leben lang begleiten.
Eine zweite Person, die Dubois sein ganzes Leben lang verfolgen wird, ist Maestro Hubert Triton, der langjährige Klavierlehrer und Manager von Dubois bzw. Eric Bonjour. Von dessen Talent hält Triton zwar nicht viel, aber er weiß dennoch, dass sich mit ihm eine Menge Geld verdienen lässt. Ein besonderer Gag ist, dass der Manager konsequent als Ziegenbock gezeichnet ist: „So habe ich ihn jedenfalls in Erinnerung.“ Nur auf einem Foto (das nicht die Erinnerungsperspektive Dubois‘ einnimmt) sehen wir den alten Mann in Menschengestalt, natürlich mit einem Ziegenbart.
Dubois verlässt seine Mutter während der deutschen Besatzungszeit und landet auf der Straße. Seine beiden besten Freunde werden zwei obdachlose Herumtreiber, deren echte Namen er nie kennenlernt: Napoleon und Floh sowie dessen piepsender Begleiter, der Vogel Tintin. Deren selbstloser Unterstützung verdankt er seine Rückkehr in die Musikwelt. Und wem läuft er dort immer wieder über den Weg? Francois Simon, der inzwischen auch Karriere gemacht hat, wenngleich nicht eine so glamouröse wie Eric Bonjour: Während Letzterer sein Geld mit massenkompatibler Unterhaltung verdient und für Luxusgüter und Drogen wieder ausgibt, erfahren wir nur wenig über Simon, der aus sehr einfachen Verhältnissen stammt und unter den Nazis deportiert wurde. Als Dubois Simons Ehefrau kennenlernt, verliebt er sich in sie – oder überträgt er seine musikalische Konkurrenz nun einfach in den Kampf um eine Frau? Handelt er aus Liebe oder aus Hass?
Der Comic verzichtet auf schlichte Schwarzweißmalerei und setzt facettenreiche Figuren nebeneinander, die mal selbstlos, mal eigennützig handeln. Man kann Eric Bonjour als eitlen Lackaffen sehen, als großspurigen Entertainer ohne Tiefgang, oder als Opfer seiner Mutter und deren Ambitionen. Und seine Mutter erscheint einerseits als ruhmsüchtige Nazi-Kollaborateurin, andererseits auch als Opfer ihrer Hilflosigkeit.
Mit großem Geschick platziert Zeichner Juan Cavia immer wieder kleine Andeutungen, die man erst bei einer zweiten Lektüre wirklich würdigen kann. Den Vogel am Fenster von Dubois‘ Villa in der Eingangssequenz lernen wir erst viel später als den Begleiter des obdachlosen Floh kennen.
Und die vermeintliche Jagdtrophäe auf der Memorabilienwand ist eine Vorwegnahme des ziegenköpfigen Musiklehrers. Dass die Trophäe an der Wand mit all seinen Erinnerungsfotos hängt, wirft erst im Nachhinein einen dunklen Schatten auf diese Seite seines Lebens.
Zeichnerisch interessant sind wie so oft die Szenen, in denen Musik ins Bild gesetzt wird: Wie soll man mit Farbe und Form die Eindrücke eines anderen Mediums ausdrücken? Damit haben längst nicht nur die zahlreichen Musiker-Biografien zu kämpfen (etwa Mikael Ross‘ Goldjunge). Auf dem Cover von Ballade für Sophie sehen wir den Zigarrenrauch des Musik hörenden Dubois‘ als eine Klaviertastatur den Titel umrahmen – eine gelungene Umsetzung. Noch viel beeindruckender ist die doppelseitige Rauschdarstellung des drogenabhängigen Dubois‘, bei der alle Elemente seines aktuellen Lebens ineinanderfließen.
Erzählerisch hervorzuheben ist die sinnvoll eingesetzte Rahmen- und Rückblickkonstruktion, weil Dubois so eine zeitliche und emotionale Distanz zu seinem früheren Leben aufbauen kann. Eine besondere Pointe besteht in dem letzten Gespräch zwischen Adeline und Dubois, weil dieses nicht vis-a-vis stattfindet, sondern als Brief, den Dubois auf seinem Sterbebett formuliert.
Der portugiesische Autor Filipe Melo schreibt Comics eher gelegentlich, so etwa The Adventures of Dog Mendonça & Pizzaboy (Dark Horse, 2010-12), eine Comicserie über die Abenteuer eines Pizzaauslieferers, eines Werwolfs und eines Dämons. Schon damals hatte er mit dem argentinischen Zeichner Juan Cavia zusammengearbeitet, mit dem zusammen er nun auch Ballade für Sophie verfasst hat. Da Melo auch Musiker ist, passt es natürlich, dass er die Ballade für Sophie als Klavierstück selbst komponiert hat – sie ist auf Youtube zu finden.
Ballade für Sophie ist eine einfühlsame Geschichte über Ruhm, Vergänglichkeit und Hoffnung. Das klingt kitschig und beliebig, aber es ist ein Verdienst dieses Comics, dass es das nicht ist. Eine wundervolle Lektüre mit ganz sanften Tönen. Ohne Pauken und Trompeten.
Eine clevere Liebesgeschichte ohne Trompeten
Splitter Verlag, 2023
Text und Zeichnungen: Filipe Melo, Juan Cavia
Übersetzung: Tanja Krämling
320 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 45,00 Euro
ISBN: 978-3-98721-118-8
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