Manchmal ist die Entstehungsgeschichte eines Comics fast erstaunlicher und spannender als dessen Inhalt. Für Emil Ferris‘ Monumentalwerk Am liebsten mag ich Monster trifft dies in jedem Fall zu. Es ist das Comicdebüt der 56-jährigen Künstlerin, erschaffen in einer Periode von gut zehn Jahren, konsequent vorangetrieben trotz zeitweiliger Obdachlosigkeit und krankheitsbedingter Lähmung. Nachdem das erste über 400 Seiten starke Buch endlich veröffentlicht werden konnte, wurde es prompt mit u.a. drei Eisner-Awards bedacht. Diese Umstände machen Am liebsten mag ich Monster zu einem noch größeren Phänomen, als es auf Basis der Lektüre ohnehin schon ist.
Ferris erzählt eine grafisch unkonventionelle Story, die sich um gleich mehrere Themenkomplexe parallel rankt, die unverkennbar autobiografische Züge aufweisen. Wie bei so vielen Motiven, Stilen und Intentionen in diesem Band, lassen sich die einzelnen Stränge weder voneinander lösen , noch von vom Hintergrund ihrer Schöpferin trennen. Als zentrale Figur dient die zehnjährige Karen Reyes, ein Außenseiter-Mädchen mit mexikanischen Wurzeln, das in den 1960er Jahren in Chicago aufwächst, wo sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder lebt. Am liebsten mag ich Monster ist eine durchgängig aus ihrer Perspektive geschilderte Erzählung, festgehalten in Notizen und Skizzen auf linierten Spiralblockseiten. Karen ist ein unsicheres Kind, das auf klassische Gemälde ebenso steht wie auf Horrorcomics, -romane und -filme. Als ihre Suche nach Identität durch den Tod der befreundeten Nachbarin unterbrochen wird, beginnt Karen, die sich in ihren Aufzeichnungen selbst als Werwolf-Mädchen darstellt, dessen Umstände aufzuklären. Und wie die literarischen Vorbilder, die sie kennt, gilt es natürlich, den möglichen Mordfall symbolisch mit Hut und Trenchcoat aufzuklären.
Der Kriminalfall rund um die tote Nachbarin ist dabei eigentlich nebensächlich, bietet er doch lediglich den Anlass dafür, dass die zehnjährige Karen vermehrt beginnt, Personen und Situationen in ihrem Leben zu hinterfragen. So stellt sich schnell heraus, dass die Vergangenheit der holocaustüberlebenden Nachbarin, die nun gestorben ist, höchste Tragik beinhaltet. Ebenso verbergen sich hinter den beschützenden, tätowierten Armen von Karens Bruder so manche Untiefen.
Emil Ferris erzählt eine kluge, verschachelte Geschichte, die Coming-of-Age-Versatzstücke mit der Liebe zu Kunst, aber auch mit schweren Themen wie soziale Unruhen, Diskriminierung, Homosexualität verbindet. Was diesen ersten Band (der abschließende zweite erscheint in Kürze in den USA) aber unzweifelhaft unter den meisten Comics hervorhebt, ist der unkonventionelle grafische Zugang, den die Künstlerin den Lesern gewährt. Jede der von „Karen“ gestalteten Seiten ist unvorhersehbar und lebendig wie in einem wirklichen Notizbuch. Mal sind die Bilder wie hingekritzelt, dann wieder unheimlich realistisch. Und nicht selten verschwimmt dabei die Grenze zwischen Panel-Sequenzen, separaten Bild- und Textanteilen sowie ganzseitigen Pin-Ups.
Karen zeichnet ihre Umwelt. Das, was sie unmittelbar sieht (z.B. Porträts der Menschen oder exakte Kopien von Gemälden), sich selbst (als Werwolf) und das, was ihr einfällt (Entwürfe für Cover von Horrorcomics). All das vermengt sich in einer grafischen Vielfalt aus dichten Kugelschreiberstrichen, was am Ende auf den linierten Seiten zu einem beeindruckenden, authentischen Ergebnis führt.
Vielschichtiges Comicdebüt, grafisch unkonventionell aufbereitet
Panini, 2018
Text und Zeichnungen: Emil Ferris
Übersetzung: Torsten Hempelt
420 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 39,00 Euro
ISBN: 9783741608087
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