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Alice in Borderland 1

Die japanische Netflix-Serie Alice in Borderland – angesiedelt in einer Paralleldimension, in der die Menschen zu tödlichen Spielen gezwungen werden, – ist temporeiche Thriller-Kost und wurde Ende letzten Jahres um eine zweite Staffel verlängert. Nun erscheint der erste Band der Manga-Vorlage von Haro Aso endlich auf Deutsch. Fans der Serie werden hier vieles wiedererkennen, trotzdem kann der Manga mit einigen Überraschungen aufwarten.

Alle Abbildungen © Carlsen

Teenager Ryohei weiß nicht so recht, was er mit seinem Leben anfangen soll. Die Schule interessiert ihn nicht, Ambitionen hat er keine. Stattdessen verbringt er die Zeit mit seinen ähnlich orientierungslos dahindriftenden Freunden Daikichi und Chota. Eines Nachts sehen die drei ein mysteriöses Feuerwerk und werden daraufhin in eine Parallelwelt hineingezogen. Was sich zunächst wie ein willkommener Neubeginn anfühlt, entwickelt sich bald zum Alptraum. Ryohei und seine Freunde merken, dass sie an gefährlichen Spielen teilnehmen müssen, um in dieser Welt zu überleben. In Anspielung an Lewis Carrolls Wunderwelt wird jedes dieser Spiele durch eine Karte symbolisiert: Die Zahl gibt den Schwierigkeitsgrad an, wobei die Farbe den Charakter des Spiels bestimmt. Da Band 1 aber gerade einmal die ersten beiden Spiele abdeckt (Kreuz Drei und Pik Fünf), bekommen die Figuren bloß einen Vorgeschmack auf das perfide Regelwerk, das dieses Borderland noch für sie bereithalten wird.

Beim ersten Spiel klaffen Manga und Streamingserie weit auseinander: Ryohei, Daikichi und Chota finden sich gemeinsam mit einer fremden Frau auf einem Marktplatz zusammen, wo jeder einen Horoskopzettel aus einem Automaten zieht und die darauf gestellten Fragen beantworten muss. Liegt jemand falsch, prasseln Feuerpfeile auf sie ein. Chota überlebt nur knapp und muss sich von seinen Verletzungen erholen, deswegen treten Ryohei und Daikichi das nächste Spiel allein an. Dieses ist in einem verlassenen Apartment-Komplex angesiedelt, wo ein Typ mit Pferdemaske und Maschinengewehr Jagd auf die Mitspieler macht. Die gesamte Sequenz ist ein furioses Actionfeuerwerk: Aso versteht es durch die dynamische Panelstruktur perfekt, die Spannung zu steigern, wobei kleine graphische Kniffe dabei helfen, die Übersicht zu wahren – so wird durch kleine Pinnadeln im Gebäudeplan markiert, wo die Figuren sich gerade befinden, und wie weit der Angreifer noch von ihnen entfernt ist.

Nervenkitzel im Wohnkomplex.

Szenen wie diese machen Alice in Borderland zu einem echten Pageturner. Aber spannend war die Netflix-Adaption ja auch schon. Der Manga überrascht im Vergleich zur Netflix-Serie vor allem durch seine Figuren. Waren Ryohei und seine Freunde in der Serie bereits junge Erwachsene, sind sie in der Vorlage fast noch Kinder. Bevor es actionmäßig zur Sache geht, investiert der Manga erstaunlich viel Zeit in die Figurenzeichnung. So leidet Ryohei darunter, dass er stets im Schatten seines erfolgreichen und ihm in vielerlei Hinsicht überlegenen Bruders steht.

Der Imperativ seiner Eltern, doch etwas aus seinem Leben zu machen, wird für Ryohei zu einer leeren Phrase, mit der er nichts anzufangen weiß. Stattdessen flüchtet er sich gemeinsam mit seinen Freunden in Tagträume über das Ende der Welt oder die Reise in ein unbekanntes Land. Alice in Borderland bringt durch die pubertären Fantasien seines Protagonisten weit verbreitete Sehnsüchte nach einem radikalen Neubeginn zum Ausdruck: „Selbst ihr Erwachsenen … habt bestimmt irgendwann schon kurz solche Gedanken gehabt, oder?“ (S. 24) Als die drei dann tatsächlich in einer fremden, post-apokalyptischen Welt landen, können sie ihr Glück zunächst kaum fassen. „Wir sind freiiiii!!!“ ruft Chota freudig aus, als sie zu dritt zum ersten Mal das scheinbar menschenleere Tokio durchstreunen. Mit nur einer einzigen Szene führt uns Aso hier wunderbar vor Augen, warum Geschichten über die Apokalypse oder das Erforschen fremder Welten so anziehend für uns sind. Dass die neu herbeigesehnte Welt mit eigenen Regeln und Herausforderungen einhergeht, müssen Ryohei, Daikichi und Chota dann auf die harte Tour lernen. Der Sinnkrise im Tokio der Gegenwart mögen sie entkommen sein, aber der Kampf auf Leben und Tod im Borderland hat gerade erst begonnen.

Die Euphorie über die frisch gewonnene Freiheit währt nur kurz.

Der Anklang, den die Netflix-Produktionen Alice in Borderland oder ähnlich gelagerte Serien wie Squid Game (2021) beim Publikum finden, ist genau auf jene Sehnsüchte zurückzuführen, wie sie gleich zu Beginn von Asos Manga angesprochen werden: „Flucht vor der Routine. Eskapismus. Realitätsflucht. Das Peter-Pan-Syndrom … Es ist voll egal, wie man es nennt … Wolltet ihr nicht auch schon mal in ein unbekanntes Land reisen?“ (S. 3) In der koreanischen Serie Squid Game kämpft ebenfalls eine Gruppe von Menschen auf der Suche nach einem Neuanfang in perfide konstruierten Spielen ums Überleben. Wo Squid Game diese Spiele als Allegorie für die kapitalistische Leistungsgesellschaft nutzt (Freiheit bedeutet für die Figuren in erster Linie finanziellen Wohlstand), zielt Alice in Borderland auf eine existenziellere Dimension ab. Die Teilnahme an den Spielen geschieht im Borderland nicht freiwillig, vielmehr stehen die Spiele für fundamentale Aspekte des menschlichen Lebens selbst. So wie es ein Mitspieler Ryohei an einer Stelle erklärt, steht „Pik“ für Körperlichkeit, „Karo“ für Intelligenz, „Kreuz“ für die Kombination aus beidem und „Herz“ für Emotionen. Die Anforderungen, welche die Spiele an die Mitspieler stellen, entsprechen diesen Aspekten – so wie etwa das Pik-Spiel im Apartmenthaus physische Stärke und Kondition verlangt.

Was wir im ersten Band von Alice in Borderland präsentiert bekommen, ist der erste Schritt einer Entwicklung, die der Protagonist Ryohei durchmachen wird. Ohne genau zu wissen, wie diese Entwicklung ausbuchstabiert wird oder wie sehr der Manga im Verlauf der weiteren Bände noch von der Serie abweicht – was seine prinzipiellen Motive und Themen betrifft, legt der Comic seine Karten bereits offen auf den Tisch: Ein Teenager, der glaubt, schon alle Lust am Leben verloren zu haben, lernt, in Extremsituationen über sich hinauszuwachsen. Alice in Borderland ist ein Bildungsroman Made in Japan.

Das Leben ist ein Spiel

8von10Alice in Borderland 1
Carlsen, 2023
Text und Zeichnungen: Haro Aso
Übersetzung: Lasse Christian Christianssen
338 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 10,00 Euro
ISBN: 978-3-551-62383-6
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