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Why the violence? – Teil 1: Gedanken über Garth Ennis, Gott und Jim Steranko

Wie umfassend sich derzeit die Medienlandschaft ändert, lässt sich unter anderem daran erkennen, dass inzwischen Stoffe an den Mann bzw. die Frau gebracht werden, die früher nur ein Nischenpublikum erreicht hätten. Auch auf dem Land verfällt man mehr und mehr dem Nerd-Virus, und das nicht nur bezogen auf Big Bang Theory, Star Wars und das Marvel Cinematic Universe. Erst kürzlich wurde ich im beiläufigen Gespräch über Serien unter anderem auch auf Preacher angesprochen, wie schräg und abgefahren das doch sei und ob ich das kennen würde. Ich hätte nicht gedacht, dass die Entwicklung mich da so schnell überholt: Während Garth Ennis‘ und Steve Dillons blasphemischer Klassiker bei mir längst in Kisten auf dem Dachboden gelandet ist, ist die Reihe im Mainstream auf einmal der neue heiße Scheiß. Dabei hat sich Garth Ennis seit Preacher doch inzwischen sehr stark weiterentwickelt.

Jesse Custer, der Preacher, von Garth Ennis und Steve Dillon. © DC/Vertigo

The God Delusion

„You better splatter.“ © DC/Vertigo

Natürlich kann ich den Kultstatus dieses Comics nachvollziehen, dennoch empfand ich Preacher bereits nach den ersten Heften 1995 gegenüber Ennis‘ Vorgängerserie, den Heften 41 bis 83 der Serie Hellblazer, als Rückschritt. Das zeigte sich schon in der Art und Weise, wie Gewalt dargestellt wurde. Die wirkte in Hellblazer nämlich sehr in der Realität verortet, was einen interessanten Bruch zu den Fantasy-Elementen darstellte. In Preacher hingegen lassen die Splatter-Elemente den Leser eher kalt. Beispielsweise die Szene, die in der Folterhöhle eine Serienkillers spielt: Der Killer hat seinem männlichen Opfer, während dieses betäubt war, die Gesichtshaut abgezogen (seit Texas Chainsaw Massacre 2 ein häufig benutztes Bild) und hält sie ihm nun vor die Nase. Als der, immer noch im Dämmerzustand, merkt, was ihm angetan wurde und zu Schreien beginnt, nimmt der Killer eine Handvoll Nägel und Hammer und sagt „Ist okay. Ich mach das wieder hin.“ Steve Dillons Zeichnungen wirken, obwohl er den Focus wieder direkt aufs blutige Detail setzt, als würde er mit betont naiver Darstellung ein Gegengewicht zur grellen Gewalt setzen wollen. Das erzeugt Distanz und lässt die Brutalität irreal, forciert und auch etwas dumm wirken.

Es gibt nicht wenige Leser, die der Meinung sind, der Erzähler Ennis sei besser, wenn er von einem Redakteur in die Schranken gewiesen werde und nicht völlig unzensiert arbeiten dürfe. Tatsächlich erschienen ab 1995 zwei laufende Serien von Garth Ennis. Die eine, Preacher, richtete sich an „erwachsene Leser“, die andere, Hitman, spielte im Mainstream-Universum des DC-Verlags und durfte entsprechend nicht ebenso explizit sein. Viele hielten damals Hitman für die bessere Serie, während Preacher immer wieder als zu heftig, mitunter auch zu vulgär gesehen wurde. Nun besteht Preacher aber nicht nur aus Gewaltspitzen, sondern hat durchaus eine fokussierte Handlung. Diese entwickelt sich aus der Situation heraus, dass ein vom Glauben abgefallener Priester namens Jesse Custer eine übernatürliche Kraft verliehen bekommt, die ihm gestattet, mit dem Wort Gottes zu sprechen. Alles was er von nun an befiehlt, wird im wortwörtlichen Sinn befolgt, was oft zu sehr witzigen, teils grotesken Handlungen führt. Legendär ist die Szene, in der Custer einem Polizisten sagt, dieser solle sich „selbst ficken“. (Meine persönliche Lieblingsszene ist aber, dass Jesse Custer einem seiner Gegner befiehlt, die ersten 3 Millionen Sandkörner eines Strandes zu zählen.) Es entwickelt sich eine aberwitzige Konstellation: Der vom Glauben abgefallene Priester erfährt, dass Gott tatsächlich existiert, aber sich von seiner Schöpfung abgewandt hat. Daher macht Jesse Custer sich im wortwörtlichen Sinn auf die Suche nach Gott, um diesen dazu zu zwingen, seinen Anhängern die ganze Wahrheit zu erzählen.

Garth Ennis beantwortet mit seinem simplen Storygerüst also auch ganz beiläufig, weshalb Gott Leid zulässt. Dieser ist einfach an seiner Schöpfung nicht mehr interessiert. Gleichzeitig ist Gott bei Preacher aber nur noch eine profane, wenn auch mächtige Fantasyfigur, die davon lebt, die Menschen zu blenden und zu täuschen. Jesse Custer entscheidet, dass die Menschheit besser ohne Gott dran ist und lässt am Ende zu, dass Gott durch den „Heiligen der Killer“ erschossen wird. Garth Ennis‘ groß angekündigte Blasphemie ist jedoch so groß nicht, denn in einer Geschichte, in der Gott tatsächlich existiert, wird das Prinzip Glaube ad absurdum geführt, denn es handelt sich nicht mehr um glauben, sondern gut informiert sein. Dadurch wirkt auch alles andere, unter anderem auch die Entscheidung, Gott zu erschießen, an den Haaren herbeigezogen. Erstaunlich ist dann eher die Tatsache, dass Garth Ennis es trotzdem schafft, über mehr als 70 Hefte hinweg blendend zu unterhalten. Richtigen Biss hat die Serie – ganz im Gegensatz beispielsweise zu South Park, das von der Art des Humors artverwandt ist – aber nur sehr selten. Letztlich wirkt das Vorhaben „Gott zu erschießen“ im Preacher-Universum reichlich risikolos, weil Gott ohnehin als belanglose Figur angelegt ist. Garth Ennis‘ Provokation wirkt eher wohlfeil als durchdacht. Man nennt das auch „preaching to the converted“.

Da war Ennis in Hellblazer noch schärfer. In Hellblazer gibt es zwar ebenfalls Gott, den Teufel und eine Schar an Erzengeln, doch ist vor allem Gott in Hellblazer als absolute, abstrakte Größe dargestellt, die völlig unberührbar bleibt. Zwar äußert John Constantine Zweifel an Gottes Gerechtigkeit, was aber nichts an dessen Allmacht und seinem göttlichen Plan zu ändern vermag, selbst wenn es das Leben unerträglich macht. In Hellblazer gibt es keine Alternative zur Welt unter Gott. Garth Ennis beschreibt diese Welt wie eine völlig hermetische Diktatur ohne Alternative und ohne Fluchtmöglichkeit. Das Leben ist bereits unter Gott die Hölle und das Himmelreich ist nur für Arschkriecher. Diese Darstellung ist die größere und vor allem stimmigere Provokation.

In einem war Preacher jedoch eine Weiterentwicklung von Garth Ennis‘ Schreiben. Während Ennis in Hellblazer noch eine Welt zeigte, die von ihrem Gott erdrückt wurde, hat er in Preacher Gott erst kleiner gemacht und dann symbolisch getötet. In den folgenden wichtigen Serien von Ennis spielte Gott dann keine Rolle mehr bzw. rückte wieder an die Stelle wo er hingehört. Er wurde wieder zur Projektionsfläche für gläubige Menschen – also mithin das, für das er tatsächlich mal erfunden wurde. Das Universum der Ennis-Comics nach Preacher bleibt ansonsten „realistisch“ – abgesehen natürlich von diversen Superheldenauftritten bei manchen Punisher-Stories und seiner Langserie The Boys und abgesehen auch von Wormwood, in dem es wieder um Gott und Jesus ging, das aber von vorneherein nur als kleinere – dabei aber umso treffsicherere – Satire angelegt war und nicht zu seinen großen Projekten gezählt werden kann.

Der erste Punisher-Run konnte sehr witzig sein. Zeichnung von Steve Dillon. © Marvel Comics

Wer ohne Fehl …

Nachdem Preacher und Hitman um 2000 herum endeten, startete Garth Ennis sein nächstes Großprojekt, seine langjährige Arbeit an Marvels Punisher. In der ersten seiner beiden Punisher-Serien, wieder mit Steve Dillon als Zeichner, dominierte allerdings noch Garths überdrehter Humor, so dass die zwingend notwendige Kritik an der Figur, die in der Tradition der Death Wish-Filme Selbstjustiz übt, weil die lasche Justiz der Kriminalität im Land nicht Herr wird, nicht wirklich greift. Garth Ennis‘ Punisher konnte zu diesem Zeitpunkt als Parodie auf die ernsteren Geschichten der 1980er gesehen werden, selbst wenn er sich ab und an auch an gut gemachten, oft aber konventionellen Actionszenarien versuchte und manchmal den Punisher nur als Katalysator verwendete, um menschlich anrührende Geschichten über Nebenfiguren zu erzählen.

Das wohl beste Beispiel für ernst gemeinte Erzählungen aus dieser Punisher-Ära ist der Dreiteiler „The Brotherhood“, ein Drama um Polizeikorruption und häusliche Gewalt. Garth Ennis erzählt darin von einem Polizisten, der von den Spannungen seines Berufs und der Korruption innerhalb seiner Einheit so aufgerieben wird, dass er sich in den Alkohol flüchtet und seine aufgestauten Aggressionen an seiner Frau auslässt und sie schlägt. Die Frau flüchtet ins Frauenhaus, während der Mann sich vor Verzweiflung die Pistole in den Mund steckt, sich dann aber doch eines Besseren besinnt. Der örtliche Priester, dem Polizisten freundschaftlich verbunden, verrät in einem Moment der Schwäche die Adresse des Frauenhauses; als dieser jedoch tags darauf vor der Tür des Frauenhauses anfängt, eine Szene zu machen, wird er vom Punisher, der die Tragödie schon länger beobachtet, zur Seite genommen und mit angemessenem Nachdruck – es fehlen die richtigen Worte –  „verwarnt“.

Szene aus „The Brotherhood“, der wohl ambitioniertesten Story des ersten Punisher-Runs. © Marvel Comics

Es gibt im Verlauf der Geschichte niemanden, der keine Vergebung nötig hätte – aber wer könnte diese spenden? Der Priester, überfordert vom Spagat zwischen dem freundschaftlich-vertraulichem Verhältnis einerseits und einer professionellen Distanz andererseits, bezeichnet den Polizisten als „Monster“. Daraufhin der Polizist: „Was glaubst du wer du bist, dass du mich verurteilen kannst […]. Deine Kirche hat schon Schlimmere als mich protegiert, Vater. […] Oder wie läuft das so bei euch? Wenn kleine Kinder in der Gemeinde anfangen, Geschichten über Missbrauch zu erzählen, wird der Priester versetzt. Und wenn’s dann wieder passiert, wird er wieder versetzt – weil die Kirche auf die ihren aufpasst, egal was sie den Kinderchen antun. Und jetzt kommst du, Priesterchen, daher und brichst den Stab über mich? Na, Billy, hast du auch schon der Versuchung nachgegeben?“

Bis zu diesem Punkt ist die Rede, wie man von Garth Ennis vermuten würde, noch eine Abrechnung mit der Kirche. Es ist ein Allgemeinplatz, dass Ennis, der schon Gott erschossen hat, an der Kirche kein gutes Haar lässt. Aber der Priester bietet Kontra: „Du bist’n verdammter Idiot. Behaupte ich vielleicht, dass du jeden Verdächtigen mit einem Besenstiel vergewaltigst? Das ist einfach nur lächerlich!“. „Yeah,“ so der Polizist, „das ist es. Aber das ist genau der Scheiß, der jedem Polizisten da draußen ständig unter die Nase gerieben wird. Als hätten wir ’ne Antwort für das, was einer oder zwei von uns getan haben. Aber wir müssen ruhig bleiben, wenn uns wieder so ein kleiner Schisser deswegen anmacht. Die gleichen kleinen Flachwixer, die dann wieder angeschissen kommen, wenn bei ihnen die Kacke am Dampfen ist. Du möchtest einfach nur jedem, den du siehst, in seine verdammte Fresse schlagen.“

Aus „The Brotherhood“. Keiner inszenierte Dialogszenen so schön wie Steve Dillon. © Marvel Comics

Es ist diese Dialektik, die man Garth Ennis nicht hoch genug anrechnen kann. Anders als seine Fans und Vermarkter, die immer nur die böse Seite von Ennis sehen, und ihn – recht eindimensional – als Antichrist vermarkten, ist Ennis oft schon einen Gedankenschritt weiter und untergräbt auch die Haltung, für die er von seinen Fans Applaus bekommen würde. Aber so funktioniert ernsthaftes Erzählen nunmal. Anders als Frank Miller, der im Medium Comic vor allem das ideale Medium für Propaganda sieht, gelingt es Garth Ennis nicht nur, zu provozieren, sondern tatsächlich zum Nachdenken anzuregen. Garth Ennis gelingt in „The Brotherhood“, den christlichen Ausspruch „Wer ohne Fehl ist, werfe den ersten Stein“ auch seinen Fans zu vermitteln. Anders als bei South Park ist die Moral von „The Brotherhood“ aber nicht „tongue in cheek“, also mit einem Augenzwinkern zu verstehen, sondern sehr ernsthaft formuliert.

Ein Kuriosum während seines ersten Punisher-Runs, der von 2001 bis 2004 unter dem „Marvel Knights“-Imprint lief, war zweifellos, dass sich Ennis nicht für eine geschlossene Erzählhaltung entscheiden konnte, sondern wild zwischen Parodie, Actionstory und Drama hin- und hersprang. Aber vielleicht haben wir die hohe Qualität dieser Stories und auch den hohen Spaßfaktor ja genau dieser Unentschlossenheit zu verdanken. Eine Unentschlossenheit übrigens, die auch Preacher prägte, aber Preacher vereinte die Unentschlossenheit unter einem geradlinigen Überplot, während Ennis‘ Punisher (ich rede noch nicht von der zweiten Punisher-Serie unter dem Max-Imprint) viel stärker als offenes Konzept und Experimentierfeld angelegt war.

The Gentle Art of Making Enemies

2001 erschien mit Fury zudem Garth Ennis‘ erste Erzählung unter dem „Max“-Imprint, welches von vorneherein als R-Rated angelegt war. Das Max-Label sollte seinen Autoren ermöglichen, unbehelligt von Selbstzensur mal so richtig die Sau rauslassen zu können. Ennis‘ Fury war zunächst, ebenso wie seine Punisher-Stories dieser Zeit, etwas unentschlossen, was die Richtung anging. Es gab es eine ganze Reihe parodistischer und betont grotesker Elemente, gleichzeitig gab man sich in Hinsicht auf Gewaltdarstellung allerdings derart tabulos, dass man sich schon fast an Peter Jacksons frühe Filme erinnert fühlen musste. In Teilen war Fury ein Gorefest, was, ähnlich wie bei Preacher, eher distanzierend als einnehmend wirkte und auf befremdliche Art schon wieder „Fun“ war. Es geht um einen durchgeknallten Colonel, der in vergangenen Zeiten für Hydra, eine Verbrecherorganisation vergangener Nick Fury-Geschichten, arbeitete und nun Nick Fury zu einem Spiel animieren will. In einem willkürlich gewählten kleinen Land will er einen Konflikt mit den Nachbarn provozieren, um endlich wieder Krieg führen zu können. Fury lehnt ab, muss aber bald miterleben, wie sein Feind eben dieses „Spiel“ tatsächlich beginnt und – nur weil er es kann – einen internationalen Konflikt heraufbeschwört, den Fury nun wieder eindämmen muss. Im über mehr als zehn Seiten laufender Endfight zwischen den beiden Kontrahenten, der auf einem mit Napalm beschossenen Flugfeld ausgetragen wird, zeigt Ennis‘ Zeichner für diese Story, Darick Robinson, in aller Deutlichkeit, wie sich die beiden Gegner gegenseitig die Knochen brechen und Stücke aus dem Gesicht herausbeißen, bis Nick Fury seinem Gegner am Ende den Bauch aufschlitzt, die Eingeweide herausreißt und damit erwürgt. Stan Lee, einer der Erfinder der Figur, war von dieser ultrabrutalen Darstellung wenig begeistert – „Ich weiß nicht, warum die das tun. Ich würde so etwas nicht erzählen wollen“ und Schauspieler George Clooney war davon so abgestoßen, dass er seinen Wunsch, Nick Fury zu spielen, wieder verwarf und bereits begonnene Verhandlungen wieder abbrach.

Sehr, sehr brutal: Garth Ennis erste Fury-Story. © Marvel Comics

Am Ende der Erzählung, nachdem Nick Fury wieder zu Hause in seiner Zentrale ist, schwört er gegenüber einer Büroangestellten, dass er dem nächsten „crumb of dickcheese“ (Slangword für Smegma), der ihm das Rauchen seiner Zigarre im Bürogebäude verbieten wolle, die Zigarre im Auge ausdrücken würde. Zwei Seiten später ist es genau der ihm verhasste, bürokratische, politisch überkorrekte, darüber hinaus asiatische Vorgesetzte Li, der ihn auf das Rauchverbot hinweist und somit die Zigarre ins Auge gesteckt bekommt – ein Brüller. Zieht man Filme zum Vergleich mit Fury heran, drängen sich Söldnerfilme wie Die Wildgänse kommen oder Rambo 2 auf, im Gegensatz zu diesen gibt es bei Garth Ennis allerdings noch einen galligen, bösen Humor, der hier aber weniger die brutale Handlung konterkariert, sondern beiläufig parallel dazu läuft.

Ein offener Brief von Jim Steranko

Comicveteran Jim Steranko, der viele Jahre lang den Stil der Nick Fury-Comics mitgeprägt hat, hätte guten Grund gehabt, Garth Ennis schon allein wegen seiner Fury-Erzählung zu verachten. Tatsächlich war es aber ein anderer Comic von Ennis, der Steranko derart auf die Palme trieb, dass er gegen Ennis eine Initiative startete, nämlich The Pro, Ennis‘ schwarzhumorige Farce um eine Prostituierte mit Superkräften aus dem Jahr 2002. The Pro veranlasste Steranko, einen offenen Brief an seine Fans zu schreiben:

„Ihr seid in Gefahr! Wir alle sind es! Wir alle mussten erleben, wie unsere Arbeit, unsere Lebensweise und unser Land – alles, woran wir glauben – zunehmend zersetzt wurden. Die Anschläge vom 11. September haben mich, und wahrscheinlich auch die meisten von euch, an die Grenzen dessen gebracht, was man den destruktiven Kräften und Einflüssen um uns herum entgegensetzen kann. Wer mich kennt, kann bestätigen, dass ich nie behauptet hätte, einer der „Guten“ zu sein. Aber durch diese Bösartigkeit, die ich in letzter Zeit gesehen habe und die in der Katastrophe des World Trade Center ihren Höhepunkt fand, hat sich meine Wahrnehmung verändert.

Wie so viele andere auch, widert mich diese Pest von Gewalt und Tod an, die unsere Nation im Griff hat. Es ist frustrierend, aber ich sehe keine Möglichkeit, etwas dagegen ausrichten zu können. Besonders verstörend aber finde ich, dass die Kunstform, der ich seit jeher verbunden bin, ganz offensichtlich von den Werten, die sie einmal verkörperte, nichts mehr wissen möchte. Die heutigen Comics sind besessen von Brutalität, Zerstörung, Verderbtheit, Zynismus und Obszönität. Etwa nicht? Hier ist eine Pressemitteilung, die ich vor ein paar Wochen zu lesen bekam:

The Pro. © Image Comics

‚ENNIS, CONNER, PALIMIOTTI DREHEN EIN DING
19. August: Habt ihr euch schon mal gefragt, was wäre, wenn die Prostituierte, mit der ihr gerade schlaft, Superkräfte hätte? Garth Ennis schon: Deshalb arbeiten Amanda Conner und Jimmy Palmiotti gerade an The Pro, einem Comic, der nächsten Sommer bei Image erscheinen wird. Beim All-Star Panel auf der WizardWorld Con sagte Palmiotti: „Das wird den Comics Book Legal Defense Fund sicherlich die nächsten fünf Jahre beschäftigen. Es ist die erste Super-Prostituierte und sie trifft auf so ziemlich jede bekannte Comicfigur. Wir machen das auf Garth Ennis‘ Weise, also werden wir wohl einiges verfremden, aber es wird ein Mainstream-Superheldencomic mit einer Prostituierten sein. Es ist böse, böser als Hitlers Hoden. Und mit Garth an Bord ist der Wahnsinn garantiert. Und Amanda, eine Frau, zeichnet dieses böse Zeug. Das ist richtig böse. Und dann bin da noch ich, aber ich steh sowieso auf Ärger.“ Conner und Palmiotti signierten Samstag nachmittag am Stand des CBLDF, um schon mal die Kriegskasse zu füllen.‘

Wenn das witzig sein soll, kann ich darüber nicht lachen. Sind unsere erfolgreichsten Künstler so verzweifelt, dass sie inzwischen das Böse feiern? Offensichtlich. Sie halten sich offensichtlich für Kultur-Terroristen und wollen der Welt zeigen, dass sie sich mit dem Bösen verbündet haben. Sollen sie. Mich persönlich macht es krank, besonders der psychotische, nihilistische Müll, der uns als Entertainment angedreht wird und eine ganze Comic-Ära ins Zwielicht rückt. Wenn ich das Böse sehen will, brauche ich nur aus dem Fenster zu sehen – es ist KOSTENLOS! Ich muss keine 2.95$ ausgeben, um zu wissen, dass überall Hass, Angst, Zerstörung und Tod lauern. Und ich will es verdammt noch mal nicht ertragen müssen, dass es mir von denen ins Gesicht gerieben wird, die für uns nur cooles Getue und blasierte Arroganz übrig haben. Aber, ihr Gangster, wenn ihr euch wie Terroristen gebt, könnt ihr darauf warten, dass einige von uns euch auch wie Terroristen behandeln. […]

Vor ein paar Jahren habe ich Stan Lee wegen dieser seltsamen Entwicklung einmal angesprochen. Es war ihm deutlich anzusehen, dass ihm das nicht gefällt, aber er meinte „Das ist, was die Leser wollen.“ Ich glaube nicht daran. Ich glaube, wir wollen ausgearbeitete Figuren, überzeugende Dialoge, interessante Plots – Unterhaltung also, die ihr Geld auch wert ist.  […] Ich bin bereit, mit allen Mitteln dagegen anzukämpfen. Wenn wir uns nur einig sind, können wir diese verantwortungslosen Bastarde ganz sicher auf die Straße setzen – und wenn das nicht funktioniert, besorge ich ihnen persönlich ein Flugticket zu den Taliban.

Gibt es da draußen noch andere, die die Nase voll haben von diesen Satanisten, die erst zufrieden sind, wenn sie endlich einen Granatsplitter im Schädel haben? Steht auf und kämpft für die Ideale und Werte, an die ihr glaubt. Falls nicht, dann verdient ihr, was ihr kriegen werdet – und es wird nicht schön werden.

Ich würde gerne sehen, auf welcher Seite IHR steht.

Jim Steranko“

Das ist teils krude formuliert, dennoch benennt Jim Steranko ja durchaus ein paar valide Punkte – auch wenn er die ironische Verwendung des Wortes evil vielleicht zu sehr auf die Goldwaage legt, was man ihm angesichts des erst kurz zuvor erlebten Traumas von 9/11 aber schwerlich vorwerfen möchte. Aber Garth Ennis ist ein Autor mit Pokerface, der sich dieser epochalen Katastrophe auf seine Weise annähern musste, er ist sicher nicht derjenige, der den Schulterschluss sucht und fortan Comics für die nationale Anstrengung schreibt. Noch konnte Ennis nicht den passenden Tonfall für die veränderte Weltlage in sich finden, also feierte er stattdessen noch einmal seine bewährte Mischung von Sex, Gewalt und guter Laune ab. Aber die unbeschwerte Formel „Gewalt = Fun“ kam bei Garth Ennis langsam an ihr Ende. The Pro war für die nächsten Jahre einer der letzten unbeschwerten Comics. – Fun Fact: Die Erstausgabe von The Pro enthielt eine Widmung an Jim Steranko.

Natürlich muss an dieser Stelle auch erwähnt werden, dass Jim Steranko zuletzt auch als glühender Verehrer von Donald Trump in Erscheinung trat, was er in zahlreichen Tweets zum Ausdruck brachte. So twitterte er von „Clinton und ihrer kriminellen Bande“ und schrieb  „Nur zusammen können es verhindern, indem wir [Clinton] und ihre Leute von der Macht FERNHALTEN“. Auch 15 Jahre nach dem ersten Erscheinen von The Pro ist Steranko immer noch voller Sendungsbewusstsein und will seine Fans offensichtlich möglichst nach seinem Bild formen. Aber sollte man wirklich immer den Überzeugungen seiner einstigen Vorbilder folgen?

Beenden möchte ich den ersten Teil meines Aufsatzes allerdings mit einer Fury-Seite von Jim Steranko, die ihn von seiner sympathischeren Seite zeigt. Es ist die berühmte Andeutung von Sex zwischen Fury und einer S.H.I.E.L.D.-Agentin (in: Nick Fury, Agent of S.H.I.E.L.D. #2, 1968). Leider war die subtile Andeutung des ausgehängten Telefonhörers für die damaligen Verhältnisse schon zu anzüglich und die innige Umarmung der beiden im letzten Panel sowieso. Steranko musste die beiden Panels neu zeichnen. Deutlich sichtbar im letzten Panel: Furys Pistole hatte gefälligst im Halfter zu bleiben. Jim Steranko war in seiner besten Schaffensphase also durchaus ein Meister der subtilen Andeutung und Provokation. Wie anders wirken dagegen Ennis‘ Gewaltorgien – aber auch Sterankos hysterische Tweets.

Subtile Andeutung von Sex, subtil zensiert. Nick Fury von Jim Steranko. Stilvoll auch durch die gelungene Bildsprache. © Marvel Comics

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