Studierendenfreundliche Einführungshandbücher über Comics sind inzwischen eine etablierte Textsorte: Scott McClouds Understanding Comics gehört da schon zu den Klassikern, und auch hierzulande sind inzwischen eine ganze Reihe solcher Bücher erschienen, aber womit anfangen?
An der Konjunktur solcher Bücher erkennt man einerseits das akademische Bedürfnis nach einem lehr- und lernbaren Kanon an Theoriemodellen und einem Werkzeugkasten zur Analyse. Andererseits zeugen die immer neuen Publikationen auch davon, dass ‚die eine‘ Einführung in die Comicgeschichte noch nicht geschrieben worden ist. Aber ist es naiv, von ‚dieser einen‘ Einführung zu träumen? „Any field busy and productive enough to merit a guidebook will by definition be too busy and productive for a single book to cover.“ Die Bescheidenheit, mit der Charles Hatfield und Bart Beaty, zwei akademische Schwergewichte in der amerikanischen Comicforschung, in ihr aktuelles Guidebook (s.u.) einsteigen, ist also durchaus angebracht. Welche Comic-Einführung eignet sich für welche*n Leser*in?
Natürlich kann man sich in diversen lesenswerten Comic-Blogs informieren, in Comic-Podcasts, auf Youtube-Kanälen und in Fan-Zeitschriften, aber das Comic-Wissen, das man dort findet, ist nun einmal anders organisiert als etwa in wissenschaftlichen Publikationen. ‚Wissenschaftlich‘ heißt manchmal ‚unlesbar‘, immer aber ‚überprüfbar‘, weil die Quellen stets offengelegt werden.
In einem Comic-Bücherregal können sich schon jede Menge solcher Einführungen stapeln. Neben allgemeiner Sekundärliteratur auch solche zu speziellen Themen, Fragestellungen oder Künstler*innen. Auch solche mit einer speziellen methodischen Ausrichtung. In diesem Beitrag, der sich (auch) an Studierende der beteiligten Disziplinen wendet, möchte ich einige solcher Bücher kurz vorstellen.
Es folgt – ein ganz persönlicher und unvollständiger – Blick auf Comic-Einführungsbücher.
Scott McCloud: Understanding Comics
Mit diesem Buch, einer Comic-Theorie in Comicform (also ein „Metacomic“), hat Scott McCloud sich 1993 in die Comicgeschichte eingeschrieben. In neun Kapiteln widmet McCloud sich verschiedenen Aspekten wie dem ‚Gutter‘ (in der deutschen Ausgabe wird der Raum zwischen den Panels ‚Rinnstein‘ genannt), der Darstellung von Zeitlichkeit oder etwa dem von ihm beschriebenen Closure-Effekt (wie kommt Leser*in von einem Bild zum anderen). Das Buch eignet sich kapitelweise hervorragend, um Leser*innen für die Beobachtung von Comics zu sensibilisieren, wenngleich man über manche seiner Typologien durchaus streiten kann. Viele der Argumente, die er in Bildsequenzen anschaulich macht, gehören inzwischen zum common sense der Forschung. Dem Buch folgten zwei weitere, weniger erfolgreichere Titel, Reinventing Comics (2000) und Making Comics (2006).
Wie Comics erzählen
Diese Dissertation des Anglisten Martin Schüwer ist eine erzähltheoretische Einführung in die Analyse von Comics. Einem kulturwissenschaftlichen Ansatz folgend kombiniert er Modelle und Theorien verschiedener Disziplinen. Er widmet sich etwa der Darstellung von Zeit, Raum und Bewegung und bemüht sich, seine Ausführungen anschaulich zu gestalten. Als Doktorarbeit, bei Prof. Ansgar Nünning (Gießen), ist das umfangreiche Buch dem narratologischen Duktus der Disziplin verpflichtet und damit keine leichte Lektüre für fachfremde Leser*innen. Nach Martin Schüwer ist der Publikationspreis der Gesellschaft für Comicforschung benannt, der Martin-Schüwer-Preis. Seit 2019 wird deser Preis jährlich für herausragende Comicforschung von Nachwuchswissenschaftler*innen vergeben.
Der Comic – Geschichte, Stile, Künstler
Diese Einführung versucht sich nicht an Theorie und Analyse, sondern erzählt die Geschichte des Comics in verschiedenen Kulturen: US-Comics, frankobelgische Comics, Mangas etc. Klaus Schikowski ist als Programmleiter bei Carlsen ein langjähriger Comic-Experte, der die (spärlich und nur schwarzweiß illustrierten) Kapitel mit viel Routine und sehr pointiert verfasst hat. Die Kapitel empfehlen sich als sehr lesbare Einführungen in die kulturellen Kontexte der Comic-Geschichte. Das kurze Glossar am Ende ist kurz, aber für Comic-Einsteiger*innen ein hilfreicher Service.
1001 Comics, die sie lesen sollten, bevor das Leben vorbei ist
Eine ganz andere Art von Überblicksdarstellung hat der amerikanische Comic-Experte Paul Gravett als Herausgeber vorgelegt. Wer auf dem Laufenden bleiben möchte, was auf dem amerikanischen Comic-Markt geschieht, sollte Gravetts Webseite zwecks regelmäßiger Lektüre besuchen, denn Gravett stellt dort monatlich interessante Neuerscheinungen vor. 1001 Comics funktioniert wie 1001 Filme oder 1001 Romane: In einseitigen Artikeln werden Leseempfehlungen aus der Comicgeschichte ausgesprochen und in aller Kürze von diversen Expert*innen beschrieben und in Zusammenhänge gestellt. Dabei ist ein unglaubliches Panorama herausgekommen, das Andreas C. Knigge für den deutschen Markt bearbeitet hat. Dadurch weicht die deutsche Ausgabe bei etwa 100 Titeln von der englischen Originalausgabe ab.
Paul Gravett (Hg.): 1001 Comics, die Sie lesen sollten, bevor das Leben vorbei ist. Edition Olms 2012, 960 Seiten, ISBN 978-3283011574, 29,95 Euro.
Comics – 50 Klassiker
Andreas C. Knigge verfolgt ein ähnliches Best-of-Prinzip wie Paul Gravett mit 1001 Comics, allerdings mit deutlich weniger Beiträgen, die dafür umfangreicher sind und durch Info-Boxen sehr lesefreundlich geraten sind. Die Geschichte beginnt, anders als der Untertitel suggeriert, gar nicht bei Feininger, sondern bei Rodolphe Töpffer, und endet bei Scott McClouds Understanding Comics. Knigge ist Mitbegründer der Comixene und Autor bzw. Herausgeber diverser Comic-Publikationen, ein deutscher Comic-Pionier und Autor bzw. Herausgeber diverser Publikationen, wie etwa Graphic Novels in der Reihe Text + Kritik. Dieser vergriffene Band ist keine wissenschaftliche Einführung, enthält aber Literaturverzeichnisse zu jedem Kapitel.
Andreas C. Knigge: Comics. 50 Klassiker. Von Lyonel Feininger bis Art Spiegelman. Gerstenberg 2004, 271 Seiten, ISBN 978-3806725568, vergriffen.
Comics und Graphic Novels
Dieses Buch, 2016 herausgegeben von Julia Abel und Christian Klein, hat eine Lücke in der deutschen Publikationslandschaft geschlossen. Es ist die erste akademische Einführung in Comics, die sich vorrangig an Studierende richtet und versucht, das ganze Spektrum von Bildgeschichten zu berücksichtigen. Angefangen bei einem Kapitel über ‚die‘ (bzw. eine) Geschichte des Comics über ein Kapitel zu Produktion, Distribution und Rezeption bis hin zu einzelnen Genres und Traditionen wie Web- oder Metacomics bietet diese Einführung eine sehr umfassende Einführung mit Infokästen, Literaturangaben und Aufgaben zum Selbstlernen. Als Autor*innen sind an diesem Band Comic-Expert*innen wie etwa Ralph Trommer, Christian Endres, Monika Schmitz-Emans, Marie Schröer und Andreas Platthaus beteiligt.
Comicanalyse
Im gleichen Verlag wie die vorige Einführung ist kurz darauf ein ganz ähnliches und doch ganz anders strukturiertes Buch erschienen. Die Beiträge der Comicanalyse bieten im Gegensatz zu dem verlagsinternen Konkurrenzbuch von Klein und Abel keine historische Perspektive und auch keinen Überblick über Genres oder Traditionen. Stattdessen richten die Autor*innen sich an kultur- oder literaturwissenschaftlichen Methoden bzw. Paradigmen aus und wenden diese in Hinblick auf Comics an: Semiotik, Multimodalität, Narratologie, Genretheorie, Intersektionalität und Interkulturalität. Indem die voraussetzungsreichen Beiträge jeweils mit einer konkreten Fallanalyse abschließen, machen sie anschaulich, was zuvor theoretisch erläutert worden ist.
Stephan Packard, Andreas Rauscher, Véronique Sina, Jan-Noël Thon, Lukas R.A. Wilde und Janina Wildfeuer: Comicanalyse. Eine Einführung. Metzler 2019, 228 Seiten, ISBN 978-3476047748, 19,99 Euro.
Comics – An Introduction
Die britische Universitätsdozentin Harriet E.H. Earle hat ein schmales, aber sehr konzentriertes Buch geschrieben. Sie versucht sich an verschiedenen Definitionen (Kap. 1), schreibt eine Frühgeschichte des Mediums (Kap. 2), umreißt die globale Dimension u.a. mit der Frage im Fokus, inwiefern Comics sich übersetzen lassen (Kap. 3), stellt die Bedeutung von Fan-Kulturen dar (Kap. 4) und widmet sich abschließend (und in dieser Schwerpunktsetzung etwas überraschend) in Kap. 5 dem Comic-Journalismus etwa Joe Saccos und in Kap. 6 autobiografischen Comics. Bei aller Prägnanz in den Ausführungen ist die Auswahl doch etwas eigenwillig, so dass der Band in Auszügen sehr gut für Einsteiger*innen geeignet ist, aber nicht durchgehend.
Harriet E.H. Earle: Comics. An Introduction. Routledge 2021, 226 Seiten, ISBN
Comic Studies – A Guidebook
Dieses Buch, herausgegeben von den amerikanischen Comic-Experten Charles Hatfield und Bart Beaty, ist ganz aktuell, und es lohnt sich ein etwas genauerer Blick. Anhand von 17 mundgerechten Artikeln, jeweils zehn bis zwanzig Seiten lang, stellen die Autor*innen des Bandes das Fachgebiet der Comic Studies vor. Zunächst versuchen sechs Autor*innen sich daran, einige der großen Comic-Traditionen (Comic Strip, Comic Book, Underground, Manga, Graphic Novel, Europäische Traditionen) zu beschreiben. Daran zeigt sich schon die amerikanische Perspektive des Buches: Europäische Traditionen und Mangas werden auf jeweils etwa 15 Seiten abgefertigt, was deren Vielfalt natürlich nicht ansatzweise gerecht wird, aber das wissen die Herausgeber natürlich selbst allzu gut.
In seinem Beitrag über „The Graphic Novel“ beschreibt Isaac Cates die Graphic Novel nicht als Genre oder Format mit bestimmten Eigenschaften (nicht-seriell, erwachsene Zielgruppe etc.), sondern als eine spezifische Bewegung von Kulturschaffenden, um das symbolische Kapital von Comics zu mehren. Nicht der Umfang macht also den Comic zur Graphic Novel, nicht der Einband, nicht der Verkäufer, sondern das ästhetische Grundverständnis.
Wer liest eigentlich Comics? Benjamin Woo untersucht in „Readers, Audiences, and Fans“, wie Comics sich von einem allgegenwärtigen Massenmedium in den 1950er Jahren zu einem exklusiven Fan-Phänomen in den 1980er Jahren entwickelt haben. Marvel etwa rief seine Leser*innen dazu auf, Unstimmigkeiten in der Continuity der Serien zu melden – das nennt man wohl partizipatives Publizieren. Neue Vertriebswege über spezialisierte Comicshops haben schließlich die Lese-, Kauf- und Sammelgewohnheiten verändert, und sicher haben diese Entwicklungen auch das bis heute nachklingende Bild vom Comic-Nerd geprägt.
Ian Baetens beschreibt in „Words and Images“ das Verhältnis von Text und Bild als eine traditionelle Konkurrenz. Er umreißt die westlich-aufgeklärte Skepsis gegenüber dem Bild und die Bevorzugung der Schrift. Dabei, so Baetens, müsse man den ‚Dialog‘ zwischen Text und Bild verstehen lernen, um Comics besser lesen zu können. Dabei geht es Baetens nicht um eine Typologie von Text-Bild-Beziehungen, wie Scott McCloud sie in Understanding Comics versucht, sondern darum, die Aufmerksamkeit der Leser*innen zu lenken.
Dies sind nur drei der 17 Beiträge, die mit lockerer Hand geschrieben sind, akademisch im Jargon, aber nicht pedantisch. Im Feld der Comic-Einführungen muss dieses Guidebook mit starker Konkurrenz klarkommen: „Comics have never been studied more intensively than now.“
Sehr schöne Zusammenstellung! Ebenfalls gut auf diese Liste passen würde das leider nur noch antiquarisch erhältliche „Comic Book Design“ von Gary Spencer Millidge – ein kompakter Überblick über die spezifischen erzählerischen und gestalterischen Mittel des Comics. Auch für Fortgeschrittene durchaus lesenswert wegen der vielen hervorragend ausgewählten Beispiele, die Lust aufs Weiterforschen machen!