Im ersten Teil unseres Zweiteilers über die Comics von Jean-Michel Charlier wurden bereits so manche charakteristische Gemeinsamkeiten vorgestellt, die in der über vierzig Jahre währenden Karriere des Autors immer wieder auftraten. Teil 2 setzt diese Untersuchung fort.
Zunächst wird der Schwerpunkt auf charakteristische Frauenfiguren gelenkt. Im abschließenden Kapitel mit dem programmatischen Titel „Totentanz“ geht es dann um nihilistische Tendenzen in Charliers Gesamtwerk. Sicher könnte man auch ein anderes Motto für Charliers Comics heranziehen, doch ist dies meines Erachtens schon ausreichend in der Reddition-Schwerpunktausgabe zu Charlier von 2003 geschehen. Mir geht es um das destruktive, latent menschenfeindliche, angesichts dessen, welche Verheerungen in Kauf genommen werden, fast lebensfeindliche Element, das in Charliers Werk immer wieder durchscheint.
„It is a man’s world – but it wouldn’t be nothing, not one little thing, without a woman or a girl.“ (James Brown)
Es ist eine von Männern geprägte Welt, die Charlier in seinen Comics vor den Augen seiner Leser aufreißt, und doch spürt man mitunter die Kälte und Trostlosigkeit einer Welt ohne Frauen und Kinder. Interessanterweise ist es Charlier durchaus oft gelungen, Frauen in seinen Comics auftreten zu lassen, die nicht nur Stichwortgeberinnen oder Damsels in Distress waren. Oft waren seine Frauenfiguren sehr tough, ohne dass sie deswegen verkappte Männer waren, die nur zufällig als Frau zur Welt gekommen sind.
1. Die Pilotenfrau
Unbedingt wichtig für das Pilotengenre ist der Typus der leidgeprüften Pilotenfrau, die eisern die Fassade der Familie aufrechterhält, während der Ehemann gefährliche Einsätze fliegt. Charlier hat von diesem Typ nicht häufig Gebrauch gemacht, aber in Dan Cooper, einer Pilotenserie, für die er nur als Gastautor tätig war, versuchte er sich an einer für seine Verhältnisse sehr häuslichen Familienkonstellation und erzählt glaubwürdig von der Last, die eine Soldatenfrau zu tragen hat. Es ist ein altmodisches Familienbild, das Charlier in der Erzählung „Die Jaguarstaffel“ von 1961 zeichnet, dennoch ist es ein erzählerischer Höhepunkt, weil der Autor authentische Figuren mit Problemen zeigt, die für seine Verhältnisse sehr lebensnah und menschlich sind. Diese Frau ist für Kinder und Küche zuständig und stirbt täglich vor Angst mehrere Tode, solange der Mann nicht jeden Tag wieder sicher auf der Erde gelandet ist.
2. Die Aktivistin
Marjorje ist eine Missionarin im Dienst der Adventisten, die sich in der Michel-Tanguy-Episode „Bürgerkrieg in Sarrakat“ (1970) für die medizinische Versorgung von Rebellen einsetzt, die ihr Land von korrupten Erdölgangstern befreien wollen. Zwar wird sie zu Beginn der Erzählung von Banditen gefangen gehalten, dennoch erweist sie sich schnell als gewiefte Verfasserin von Kassibern und ist überhaupt sehr proaktiv, so dass sie schwerlich für eine Damsel in Distress gehalten werden kann, eher für eine glühende Aktivistin, die auch vor illegalen Handlungen nicht zurückschreckt, solange sie nur ihr persönliches Wertesystem ausleben kann. Sie ist es, die den Helden vorschlägt, die Ölraffinerie der verbrecherischen Middle East Petrol-Company auszubomben, da ihrer Meinung nach nur so der Frieden wiederhergestellt werden kann, eine Maßnahme, die den Helden zunächst viel zu drastisch ist. Als Marjorje während eines heimtückischen Überfalls im Kugelhagel feindlicher Jets stirbt, erfüllt sich jedoch das Klischee, dass der Tod einer nahestehenden Frau jeden Helden zum Äußersten treibt und eine zusätzliche Eskalation motiviert. Tanguy bombardiert die Raffinerie nun doch und löst ein gigantisches Inferno aus.
3. Die Terroristin
In der Serie Buck Danny hat Charlier mit der unzerstörbaren Lady X zum ersten Mal eine weibliche Figur geschaffen, die wirklich auf Augenhöhe mit den Helden steht. Ehemals eine der berühmtesten und verdienstvollsten Pilotinnen der Welt, hatte die „schnellste Frau der Welt“ keine Lust, in der von Männern dominierten Militärwelt mitzumischen, sondern stattdessen einen Spionagering gegründet, der für den Meistbietenden arbeitet. Ob sie damit wirklich tiefer gesunken ist als ein Soldat, der mit rachsüchtigen Piraten gemeinsame Sache macht, sei zunächst dahingestellt; erst als Lady X in späteren Episoden alles daransetzt, einen Atomkrieg auszulösen, ist sie moralisch diskreditiert und – anders als der Rote Korsar, der eben doch einen moralischen Kompass hat – nicht mehr zu rehabilitieren.
Eine interessante Fußnote ist, dass die erste deutsche Version von „Lady X schlägt zu“, wie sie 1960 in Der Heitere Fridolin und 1973 bei Bastei erschien, Lady X völlig anders charakterisierte. In dieser ersten Übersetzung erfährt man über Lady X, dass sie in ihrer Jugend in derselben Straße wie Buck wohnte. Auch in dieser Version war sie eine hochbegabte Fliegerin, vom Bastei-Übersetzer wurde ihr aber angedichtet, dass sie sich dann der Friedensbewegung anschloss und deswegen große Schwierigkeiten bekam und schließlich abtauchte. Nichts davon hatte Charlier für die Lady vorgesehen. Bei ihm ist Lady X schlichtweg durch und durch skrupellos und nur auf ihre eigene Bereicherung aus. Angesichts der bereits erwähnten moralischen Flexibilität vieler Figuren Charliers ist sie den Helden damit überraschend nahe, wenn auch als deren dämonisiertes Spiegelbild.
4. Die Sklavin
Die Serie Der Rote Korsar war immer dann besonders gut, wenn Frauen die Handlung vorantrieben, gleichzeitig war Charlier aber gerade in dieser Serie immer wieder auf ärgerliche Weise nachlässig mit seinem weiblichen Figurenpersonal. So trifft Rick, der Sohn des Roten Korsaren, als er sich in der Gefangenschaft algerischer Piraten befindet, eine afrikanische Sklavin namens Aicha, von der sich herausstellt, dass sie die Schwester von Baba, einem Vertrauten des Roten Korsaren ist. Aicha verhilft Rick zur Flucht aus Algier, im Gegenzug verspricht Rick der Frau, sich um ihre Befreiung zu bemühen. Dieses vollmundige Versprechen gab Rick 1962 in der vierten Episode der Serie, danach kamen satte zwölf weitere Episoden von Der Rote Korsar, bevor sich Charlier in Band 17 (1974) dann doch noch einmal daran erinnerte, dass es da noch eine Geschichte gab, die noch nicht fertig erzählt war.
Auch in Band 17 ist Aicha wieder eine wertvolle Hilfe zur Bewältigung eines verwegenen Abenteuers, diesmal geht es darum, über einen Geheimgang in die Festung des großen Bei von Algier einzudringen. Aber die Dinge gehen schief: Rick und Baba, der seine Schwester hier endlich treffen darf, werden verraten, und Aicha fällt ebenfalls in die Hände der Palastwache. Rick und Baba gelingt die Flucht. Etwas später wird Aicha mit den Worten, sie solle Allah danken, denn sie hätte einen qualvollen Tod verdient, in reißendes Gewässer geworfen. Zwei Seiten weiter sieht man Aicha leblos an einen Felsen gespült. Zeichner Hubinon lässt in der Schwebe, ob sie lebt oder tot ist.
Rick und Baba kehren zum Roten Korsar zurück, der währenddessen in Kämpfe mit der algerischen Piratenflotte verwickelt war. Sie wollen Kräfte sammeln, um Aicha doch noch zu befreien. Aber der Rote Korsar, der noch ein paar Szenen zuvor verlautbart hatte, er würde seinen Sohn niemals in Stich lassen, verbietet den beiden Helden eine Rettungsaktion und lässt sie in Ketten legen – die Situation sei zu gefährlich. „Das verzeihe ich dir nie! Wegen dir musste ich mein Wort brechen!“ schimpft Rick, als er tags darauf auf hoher See wieder freigelassen wird, aber Baba[!] bringt ihn schnell zur Vernunft: „Wir hätten keine Chance gehabt, Aicha aus Algie[r] [r]auszuholen!“ Danach erhält Rick von seinem Vater noch die Belehrung, dass der ursprüngliche Auftrag – die Befreiung einer Prinzessin – nur erfüllt werden könne, wenn man sich nicht unnötig in Gefahr begäbe – und vergessen ist das grausame Thema. Sogleich sind alle wieder fokussiert auf ihren ursprünglichen Auftrag.
Es wäre ein Leichtes für Charlier gewesen, die Geschichte um Aicha zu einem Happy-End kommen zu lassen. Ebenso hätte er den Plot als Tragödie beenden können, indem Baba den Tod seiner Schwester miterlebt oder wenigstens Gewissheit darüber erhält. Stattdessen geschieht nichts dergleichen. Charlier beendet die emotionale Konstellation auf die denkbar ungünstigste Weise: Seine Figuren schütteln das Drama einfach ab und gehen zur Tagesordnung über. Eine derart kaltschnäuzige, emotionslose Erzählhaltung ist schon fast einzigartig.
5. Die Piratenbraut
In Der Rote Korsar Band 18 – „Die Insel der Verlorenen Schiffe“ (1979) – lernen wir Concha kennen, die Freundin des Piraten Morgan, der sich auf der Pirateninsel Tortuga frech in das Haus des abwesenden Roten Korsaren eingenistet hat. Als nun Rick auftaucht und Captain Morgan um Unterstützung bei einer Expedition bittet, die den Verbleib seines seit einiger Zeit veschwundenen Vaters aufdecken soll, ist Morgan wenig begeistert und sabotiert das Vorhaben. Concha jedoch, die ein Auge auf Rick geworfen hat, warnt Rick vor Morgans Hinterlist und hilft Rick, Morgans Schiff zu stehlen.
Der attraktiven Concha ist es ein Leichtes, bei Bedarf die Seiten zu wechseln und sich an den Mann zu werfen, der am längerern Hebel sitzt. Als Rick und Concha in die Fänge des schurkischen Gouverneurs Phips geraten, der im Bermuda-Dreieck Schiffe in eine Falle lockt und stiehlt, wechselt sie schnell die Seite und schmeichelt sich bei Phips ein; später, als Morgan wieder auf den Plan tritt, um sich sein gestohlenes Schiff zurückzuholen, gelingt es ihr ebenso, sich nur als Opfer von Rick darzustellen. Immer jedoch hält sich Concha ein Hintertürchen offen, um zu Rick zurückzukehren. Während sie gegenüber Rick mit offenen Karten spielt und mehr als einmal auch ihr Leben riskiert, enthält sie den Schurken der Erzählung Informationen vor. Am Ende der Episode „Das letzte Aufgebot des Falken“ (Der Rote Korsar 19) ist sie zwar wieder vorrübergehend an der Seite Morgans, doch hat sie die Sympathie des Lesers als echte Doppelagentin. Aber: Mit Morgan unter der Bettdecke geht sie eben doch den entscheidenden Schritt zu weit.
Die Geschichte mit Concha erstreckt sich über eine Spanne von vier Alben, jedoch rückt der Fokus ab „Das letzte Aufgebot des Falken“ (1982) weg von Concha und Morgan. Erst in Der Rote Korsar 21, „Das Gold der Azteken“ (1987), wird das Verhältnis zwischen Concha und Rick wieder aufgegriffen – und sogleich aufgelöst. Beim Wiedersehen ist Rick der Frau gegenüber ohne weitere Begründung abweisend. Offensichtlich hat sie Morgan inzwischen über ein Geheimsignal informiert, vielleicht hat auch nur Charlier nach einer ungewohnt langen Unterbrechung vergessen, wie differenziert die Erzählung um Rick und Concha begonnen hat und schreibt sie daher plötzlich sehr eindimensional – jedenfalls fällt Rick nichts besseres ein, als Concha mit Morgan und dessen Leuten in Südamerika auszusetzen.
6. Die Nachtklubsängerin
Chihuahua Pearl aus den Leutnant-Blueberry-Comics ist ebenso wie Piratenbraut Concha eine Frau, die sich nimmt, was sie braucht. Beziehungen nutzt sie dabei als Mittel zum Zweck, so dass die Figur ambivalent bleibt. Verheiratet ist sie mit einem ehemaligen Südstaatenoffizier namens Trevor, der als einziger das Versteck zu einem Goldschatz kennt, mit dem Extremisten den amerikanischen Bürgerkrieg erneut anfachen wollen. Nun gibt es jedoch diverse Parteien, die ebenfalls an das Gold gelangen wollen, darunter Lopez, der Gouverneur von Chihuahua, und Leutnant Blueberry, der im Auftrag der Regierung das Gold sicherstellen soll.
Schon die heimliche Ehe mit Trevor war ein Zweckbündnis für Chihuahua-Pearl, ebenso lässt sie sich auf eine Beziehung mit Lopez ein. Von ihm lässt sie sich sogar vor den Traualtar führen, als sie eine Möglichkeit sieht, ihren Mann befreien zu können. Nicht aus emotionalen Gründen allerdings, wie sich herausstellt. Kaum in Freiheit, fällt ihr angetrauter Trevor einem verarmten mexikanischen Bauern zum Opfer, der ihn wegen seiner Stiefel mit einer Machete tötet. Pearls ungerührte zynischen Kommentare, als sie den toten Trevor findet, erschüttern Blueberry so sehr, dass er sie ohrfeigt. Es ist jedoch offensichtlich: Blueberry wird auch deswegen so übergriffig gegenüber Pearl, weil auch er gerne ein Stück von ihr hätte. Aber natürlich hat er ebensowenig eine Chance wie alle anderen.
Als Schicksalsgemeinschaft in einer gefährlichen, überdrehten Verfolgungsgeschichte in Richtung Goldschatz müssen Blueberry und Pearl zwar eine ganze Zeit lang miteinander auskommen, denoch ist die Beziehung von gegenseitiger Verpflichtung bei gleichzeitiger Aversion geprägt. Viel später in der Serie versucht es der Leutnant dann aber nochmal unter veränderten Vorzeichen – er ist inzwischen wohlhabend und kann Pearl tatsächlich vorrübergehend für sich gewinnen. Dass die Beziehung nicht funktionieren kann, dürfte dem erfahrenen Leser von Charliers Geschichten dennoch klar sein. Pearl auf einer Farm? Blueberry mit lackierten Schuhen in Paris? Beides ist undenkbar. Erstaunlich an der Erzählung „Arizona Love“ von 1991 ist vor allem, dass Charlier der Geschichte um Blueberry und Pearl tatsächlich ein komplettes Album einräumte, wo er doch normalerweise dazu tendierte, solche Geschichten innerhalb eines Abschlusspanels abzuwürgen.
7. Die Frau des Banditen
In den 1980er Jahren stellte Charlier seine Serien auf neue Füße und engagierte jüngere Zeichner. Bei Blueberry wurde zudem das Szenario umgekrempelt: Der junge Künstler Colin Wilson war fortan für die „Jugendabenteuer“ des Leutnants zuständig, die im amerikanischen Bürgerkrieg spielten. Jugendabenteuer ist insofern jedoch ein irreführender Begriff, da Charlier dem Erscheinungsbild der späten Blueberry-Geschichten treu bleibt und der Blueberry dieser Stories alles andere als jugendlich wirkt.
In der ersten Episode dieser neuen Jugendabenteuer – „Die Teufel von Missouri“ – lernt Leutnant Blueberry eine Frau Namens Nugget kennen. Sie ist die Geliebte des historisch verbürgten Milizführers Quantrill, der im Grenzgebiet zwischen Nord- und Südstaaten einen Guerillakrieg gegen den Norden führt. Bald gerät Nugget ins Visier eines weiteren Milizführers, dieser allerdings auf der Seite des Nordens, der die Ehefrauen von Quantrills Männern internieren lässt und damit droht, sie binnen drei Tagen hinrichten zu lassen; ein Kriegsverbrechen, das Blueberry zu verhindern versucht. Nugget aber ist eine Frau, die sich zu helfen weiß. Kaum eingekerkert, organisiert sie sogleich einen Ausbruchversuch mit den anderen Frauen; gemeinsam graben sie einen Tunnel. Tragisch jedoch: Zum Zeitpunkt, als die Freiheit in greifbare Nähe rückt, explodiert eine Granate, gezündet von den Banditen, die ebenfalls ihre Frauen befreien wollen. Der Fluchttunnel stürzt ein und alle Frauen sterben – bis auf Nugget, die wie durch ein Wunder überlebt. Wieder ist die Handschrift Charliers überdeutlich: Da Nugget für die Handlung noch eine wichtige Rolle spielt, darf sie noch bis zum Ende des Albums weiterleben und fällt erst dann einer hinterhältigen Kugel zum Opfer. Offensichtlicher kann ein Autor nicht Gott spielen.
Totentanz
Es gibt wohl keine Serie, die Charliers obsessive Lust am Untergang deutlicher abbildet als Leutnant Blueberry. Die ersten Episoden von 1963 haben zwar noch einen Rest des Charmes klassischer Abenteuercomics, in denen Gewalt eher in Worten angedeutet als explizit ausformuliert wird, bald aber werden die Geschichten zunehmend härter: Mit einem nahezu sadistischem Gespür für Spannung wird in der fünften Episode von Blueberry (1965) ein Sympathieträger über mehrere Seiten hinweg von seinen Feinden gehetzt, entkommt ein ums andere Mal und fällt doch dem schurkischen Indianer Quanah, der den Krieg will, zum Opfer und wird skalpiert. Mit seinem Blut schreibt der Skalpierte noch eine letzte Nachricht an Blueberry. Eine unerhörte Gewaltspitze für einen Jugendcomic.
Dennoch war die Blueberry-Erzählung zu diesem Zeitpunkt noch aufrichtig in ihrer Figurenkonstellation und trennte sehr deutlich zwischen Edlen und Schurken. Eine wichtige Nebenfigur in diesen frühen Episoden war auch der Südstaaten-Veteran Finlay, der im mexikanischen Hinterland mit einer Bande von Rebellen seit der Kapitulation des Südens ein Banditenleben führt. Leutnant Blueberry gelingt es, an die Heimatliebe des Südstaatlers zu appellieren und ihn dazu zu bewegen, sich aktiv an der Verhinderung eines Indianerkrieges zu beteiligen. Als Belohnung für die Hilfe verspricht Blueberry ihm, sich für die Begnadigung von Finlay und seiner Bande einzusetzen. Am Ende der Geschichte wünschen Finlay und Blueberry sich aufrichtig viel Glück und es besteht kein Zweifel, dass sich hier zwei Männer von Ehre trennen. Kaum zu glauben, dass bereits 1970 von dieser positiven Erzählhaltung nichts mehr übrig war, denn Finlay hat sich seitdem zum heimtückischen Verbrecher entwickelt, der arglosen Reitern in den Rücken schießt. Aber was ist aus dem Generalpardon geworden, das Blueberry versprochen hatte? „Ballade für einen Sarg“ von 1972 bringt die Auflösung: Blueberry hat tatsächlich eine Amnestie bewirken können, nur hat Finlay das Schreiben vorsätzlich vernichtet, um seine Banditen, die eigentlich wieder nach Hause wollten, in der Illegalität halten zu können. Irgendwann, so Finlays Hoffnung, würde sich der Süden wieder erheben, und dann braucht es Männer voller Hass.
Verrat also. Aber wer verrät hier wen? Finlays Männer glauben, dass Blueberry sie verraten hat. Blueberry widerum entlarvt Finlay als Verräter an seinen Männern. Aber vor allem Charlier ist hier der Verräter, denn er verrät die unschuldige Erzählhaltung der frühen Tage. Die bitterböse Pointe, dass der Rebellenführer seine Bandidos über den Tisch zieht, war einfach zu verlockend für Charlier, als dass er sie ungenutzt lassen konnte.
Leutnant Blueberry ist eine düstere, hinterhältige Serie. Zum ersten Mal offensichtlich wird das in Episode 10, „General Gelbhaar“ (1968), als Blueberrys erfolgreiche Friedensverhandlungen mit Indianern von einem kriegsversessenen General vom Tisch gefegt werden, da dieser nicht unverrichteter Dinge nach Hause gehen will, nachdem er seine Soldaten mobil gemacht hatte. Sehr zynisch aber auch die Episode über zwei Pinkerton-Detektive, die in der Episode „Angel Face“ (1975) Beweise finden, dass Leutnant Blueberry, zu diesem Zeitpunkt ein zu Unrecht Verurteilter, tatsächlich unschuldig ist. Der Handlungsstrang um diese Detektive hat keinen weiteren Nutzen, als dem Leser Hoffnung auf ein Happy-End zu machen, doch wenige Seiten später sterben die Detektive im Kugelhagel von Banditen und mit ihnen die letzten Beweise für Blueberrys Unschuld. Charlier muss sein diebische Freude daran gehabt haben, eine Handlung immer wieder aufs Neue zu einer (scheinbar) ausweglosen Situation zu wenden. Er ist damit nicht nur ein Meister im Schaffen von Cliffhangern – das war auch Hansrudi Wäscher, dem man schwerlich Nihilismus unterstellen möchte. Charliers Talent, sich stets für die schlimmstmögliche Wendung zu entscheiden ist eher so ausgeprägt, dass er dem amerikanischen Autor Jason Aaron ähnelt, dessen Indianerserie Scalped ebenfalls bis zum Ende nur eine Richtung kennt: Immer weiter nach unten, bis keine Hoffnung auf ein Happy-End mehr besteht.
Die Kriegsszenarien bei Charlier sind nicht selten wahre Untergangsszenarien, egal, ob es sich um eine Variante der Schlacht am Little Big Horn handelt („General Gelbhaar“) oder um die Auslöschung eines Dorfes in Blueberrys Jugendabenteuern. Ganz bitter aber auch das Jugendabenteuer Nr. 3, „Todesmission in Georgia“, in der Leutnant Blueberry recht plötzlich selbst auf die Seite irregulärer Guerillakämpfer wechselt. Für ein Himmelfahrtskommando fordert er ausdrücklich – Das Dreckige Dutzend lässt grüßen – verurteilte „Männer, die wegen Plünderung, Vergewaltigung, Raub oder Rebellion zum Tode verurteilt wurden“, da diese für eine Begnadigung alles tun würden. So viel Ambivalenz ist tatsächlich nur schwer zu verdauen.
Im Verlauf der weiteren Handlung sabotiert Blueberry mit seinen Männern Eisenbahnschienen, so dass ein Truppentransport, der ihnen gefährlich werden kann, entgleist. Alle Südstaatensoldaten sterben, darunter wahrscheinlich kein einziger ein Plünderer, Vergewaltiger oder Räuber. Aber auch von Blueberrys Todeskandidaten überleben am Ende der Episode als einzige die drei „Sympathieträger“ – ein Begriff, der nach Lektüre der Episode allerdings kaum noch angemessen wirkt. Aber die allmächtige Hand Charliers hat zumindest Blueberrys Auserwählte die Mission nicht überleben lassen. Solche Figuren sind aber auch prima zum Verheizen geeignet.
Im Œuvre Charliers alles andere als ein Einzelfall. In der Tanguy-Geschichte „Tödliche Mission“ (1981) wirft eine Terroristin eine Handgranate in ein Flugzeug, welche alle Menschen – hier sind es Fremdenlegionäre – tötet. Auch hier überleben nur diejenigen, die für die Handlung noch eine weitere Rolle spielen. Wer aber glaubt, dass solche Volten erst in den späteren Geschichten von Charlier stattfinden, der irrt. Bereits in den frühen Buck-Danny-Erzählungen aus den späten 1940er Jahren gibt es mit schauriger Regelmäßigkeit Bauernopfer. In der Buck-Danny-Episode „Gefangen in Birma“ von 1950 befinden sich die Helden zahllose Male in ausweglosen Situationen, darunter einmal in einem gesunkenen U-Boot. Als einzige Möglichkeit, diesem Sarg aus Stahl zu entkommen, bleibt den Helden, sich im Taucheranzug aus dem Torpedorohr schießen zu lassen. Einer jedoch muss den Mechanismus bedienen, er ist der jenige, der am Ende zurückbleiben muss. Glücklicherweise gibt es genau einen Menschen an Bord mehr, als für die weitere Handlung relevant ist. Er opfert sich, damit die Helden leben können.
Immer wieder hat man das Gefühl, dass die Kriegsmaschine sich nur weiterdreht und nie zum Stillstand kommt. Zivile Personen bleiben weitestgehend Statisten und ihr Überleben ist mehr oder weniger willkürlich, machmal gewährleistet, oft aber auch nicht. Je weiter jedoch Charlier in seinen Geschichten abrückt von der zivilen Gefühlswelt, desto absoluter dreht sich das Leben ausschließlich nur noch um den Kampf. Anders als in den Kriegscomics eines Garth Ennis, der ja durchaus wegen seines Zynismus kritisiert wird, gibt es bei Charlier jedoch nie eine empathische oder psychologisierende Figurendarstellung. Einer Charlier-Figur fällt auch zum grausigsten Vorfall nie etwas anderes ein, als ein lapidares „Schrecklich.“ zu äußern und dann zur Tagesordnung überzugehen, egal ob es sich dabei um Michel Tanguy, Ernest Laverdure, Sonny Tuckson, Buck Danny, Mike Tumbler, Mike Blueberry, Jack Valhardi, Rotbart, Rick Lerouge, Baba oder Dreifuß handelt. Und es bleibt leider auch wenig Anlass zur Hoffnung, dass die jugendlichen Hauptfiguren der Biber-Patrouille, auch wenn es nur Kinder sind, aus einem anderen Holz geschnitzt sein könnten.
65 Jahre ist Jean-Michel Charlier alt geworden und die Masse an Erzählungen, die er geschaffen hat, ist kaum zu erfassen. Allein die Entwicklung der Serie Blueberry, innerhalb von nur zehn Jahren von „Fort Navajo“ zu „Ballade für einen Sarg“ ist schwindelerregend und mit heutigen Ressourcen wohl kaum noch vorstellbar. Bis zuletzt ist Charlier kreativ gewesen, stets auf hohem erzählerischen Niveau. In seinen letzten Jahren hatte er jedoch auch sehr damit zu kämpfen, neue, jüngere Künstler für seine Serien zu finden, auch die für selbstverständlich gehaltenen Wege zur Veröffentlichung sind steiniger geworden, was kurioserweise dazu führte, dass in den späten 1970er Jahren manche Episoden in den Magazinen SuperAs und Zack des deutschen Koralle-Verlags erstveröffentlicht wurden. Ende der 1980er Jahre war Charlier bereits ein angezählter Dinosaurier und seine Erzählungen wirkten aus der Zeit gefallen. Trotzdem war sein Tod ein großer Verlust, vor allem, wenn man in Betracht, wie produktiv er bis zuletzt war. Ebenso wie Ozamu Tezuka oder Jiro Taniguchi ist er trotz des üppigen Gesamtwerks doch viel zu früh verstorben.
Weiterführende Lektüre
Obwohl der vorangegangene Text weitestgehend aus persönlichen Leseerfahrungen heraus entstanden ist, war mir die Reddition 40 mit dem Dossier Charlier doch eine große Hilfe. Die darin enthaltenen 72 Seiten geballtes Wissen sind sowohl für den Einsteiger als auch für den fortgeschrittenen Leser von Charliers Comics gleichermaßen unverzichtbar.
Meine persönliche Top-Ten der Comics von Jean-Michel Charlier
Leutnant Blueberry – Chihuahua-Pearl: Es ist schwierig, eine „beste“ Blueberry-Geschichte zu wählen, dafür gibt es zu viele Höhepunkte. Vom erzählökonomischen Standpunkt her sind wahrscheinlich „Vogelfrei“ und „Angel Face“ die Höhepunkte der Reihe, zumal auch Jean Giraud in diesen beiden Episoden seine künstlerisch interessanteste Phase hatte. Chihuahua-Pearl zeigt dafür vor allem Jean-Michel Charlier in Bestform: Wie er eine Figur nach der anderen in der Geschichte wie auf einem Schachbrett platziert und dann ein Netz von gegenseitigen Abhängigkeiten immer mehr zusammenzieht, ist ganz große Erzählkunst.
Michel Tanguy – Bürgerkrieg in Sarrakat: Eine brutale Kriegsgeschichte, in Szene gesetzt von Jije, der als guter Katholik doch eigentlich viel lieber biografische Erzählungen von Don Bosco, Bernadette von Lourdes oder Baden-Powell zeichnete. Aber mit „Bürgerkrieg im Sarrakat“ ist ihm ein düsteres Meisterwerk gelungen, das die Hitze der Wüste spürbar macht und in dem man das Kerosin, das Napalm und das Feuer förmlich riechen kann.
Valhardi – Der Super-Gamma-Strahl: Eine Geschichte aus den 1950er-Jahren. Mehr noch als die Piloten Michel Tanguy oder Buck Danny ist der Detektiv Valhardi ein Tausendsassa, der alles kann – auch Jagdflugzeuge fliegen. Naiv-vergnügliches Actionabenteuer im Stil der großen 50er-Jahre-Abenteuerfilme.
Die Blauen Panther – Überfall im Königswald: Die blauen Panther heißen natürlich inzwischen auch bei uns Die Biber-Patrouille. Hier sieht man eine freundlichere Seite von Charlier. Ende der 1970er Jahre hat Charlier das Interesse an diesen vergleichsweise harmlosen Pfadfindercomics verloren, dennoch tragen auch diese kindgerechten Abenteuerstorys unverkennbar seine Handschrift und überzeugen mit durchdachten Plots.
Die Abenteuer von Tanguy und Laverdure – Abschied von der Mirage: Stefan Semel schreibt in der Reddition 40, dass der letzte Zyklus der Serie unwürdig und trivial sei. Ich finde im Gegenteil, dass die Neuorientierung der Reihe die Würde der Serie gerettet hat. Der Zyklus um eine Geiselbefreiung in Afrika war genau zum richtigen Zeitpunkt die notwendige Modernisierung. Zwar haben die Zeichnungen von Jijés Nachfolger Patrick Serres nicht mehr die gleiche Eleganz, dennoch überzeugt das Gesamtpaket und die Spannung hält bis zur letzen der über 130 Seiten. Ihre Würde hat die Serie erst verloren, als sie auf die Retroschiene gehievt wurde und ihr jedes Potential auf Weiterentwicklung abgesprochen wurde. Charlier hätte noch viel zu erzählen gehabt.
Buck Danny – Operation Apoklaypse: Auch mit dem Zyklus „Operation Apokalypse / Piloten der Hölle / Gefahr am Himmel“ beweist sich, dass Charlier in den 1980er Jahren noch viel zu erzählen hatte. Der neue Zeichner Francis Bergese bedeutete für die Buck-Danny-Reihe alles andere als einen Qualitätseinbruch. Auch dank seines realistisch-modernen Zeichenstils ist der Zyklus um gestohlene Atombomben einer der spannendesten der Serie geworden.
Buck Danny – Die Söhne des Himmels: Damals in den 1940er Jahren, als die Geschichten noch vom Pazifikkrieg handelten, wusste noch keiner so recht, wo die Serie hingehen sollte. Damals orientierten sich Hubinon und Charlier noch stark an den amerikanischen Vorbildern. So frisch und unverbraucht waren die Geschichten hinterher nie wieder. In späteren Alben war gerade die Reihe Buck Danny doch sehr in Routine erstarrt.
Der Rote Korsar – Gefährliche Erbschaft: Damit beginnte der Zyklus um algerische Piraten, die eine Thronerbin töten sollen, sie aber dann lieber in den Harem des Beis von Algier verschleppen. Der Höhepunkt des Zyklus ist zweifellos die Episode „Das Höllenschiff“. Der Vierteiler zeigt einmal mehr Charliers Fähigkeit, eine Geschichte atmosphärisch dicht und fesselnd zu erzählen. Der Höhepunkt „Das Höllenschiff“ ist spektakulär und reich an Schauwerten.
Die Abenteuer von Tanguy und Laverdure – Kurs Null: Die beste und spannendste Geschichte aus der Uderzo-Ära. Die Mischung von Humor und Action in dieser Nordpolgeschichte reißt auch nach über 50 Jahren noch mit. Ein zeitloser Klassiker.
Dan Cooper – Die Jaguar-Staffel: Die melodramatischste aller Charlier-Geschichten. Hier geht es um eine Flugstaffel mit Familienvätern, Draufgängern und Außenseitern, die gegeneinander ausgespielt werden, bis eine große Katastrophe alle Akteure wieder zusammenführt. Wie ein schöner Sonntag-Nachmittag- Film.
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