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Die schwarze Linie als Grundvokabel

Christoph Niemann in Mannheim. Seinen vielleicht einflussreichsten Kanal betreibt er nicht ausschließlich unter eigenem Namen: Mehr als eine Million Menschen folgen Christoph Niemann als @abstractsunday auf Instagram, wo er seine Fans mit gewitzten Zeichnungen und genialen Verfremdungen von Fotos erfreut. Die Vogue nennt ihn deshalb „your next must-follow on Instagram“. Aktuell ist ein Teil seiner Werke in Mannheim zu sehen.

Christoph Niemann bei der Eröffnung von „Kontrast“ in Mannheim

Der Name „Abstract Sunday“ bezieht sich auf das Blog des New York Times Magazine, das er viele Jahre lang illustriert hat. Christoph Niemann hat etliche Cover für das renommierte Magazin The New Yorker gestaltet und immer wieder für andere große US-Zeitschriften gearbeitet. Mehr als ein Jahrzehnt lebte er in New York, bevor er mit seiner Familie nach Deutschland zurückkehrte.

Aktuell hat Christoph Niemann den Mannheimer Kunstverein in ein Gesamtkunstwerk verwandelt. Das Gebäude wirkt von außen gar nicht so groß, aber innen bietet es viele Möglichkeiten, und die Kunst von Christoph Niemann ist wie eine Erweiterung des Bestehenden: Ein riesiger Mannheim-Grundriss auf dem Boden steht im Kontrast zu einem großen New-York-Bild, riesige Farbflächen in Schwarz und Weiß mit aufregendem Gelb transformieren die Wände bis über die Galerie hinaus, dazwischen weitere Kunstwerke. Zur Eröffnung der Ausstellung Kontrast: Christoph Niemann im Interview.

Ausstellungseröffnung von „Kontrast“ in Mannheim

Frage: Christoph Niemann, wie ist es als Künstler, der eigentlich eher bekannt ist für kleinere gedruckte Arbeiten, so ein ganzes Haus zu gestalten?

Christoph Niemann: Das Schöne ist, dass ich einzelne Arbeiten schon hatte: Das Rückgrat der Ausstellung lag quasi in der Schublade. Dadurch ist es leichter anzufangen, wenn man die Arbeiten erst mal verteilen kann. Weil der Raum architektonisch einfach so viel Persönlichkeit hat, wollte ich damit etwas machen. Da hatten wir die Idee, mit den Wänden und vor allem mit dem Boden, diesen grafischen Rhythmus von Mannheim und dem Raum zu verbinden. Das war eine große Einladung.

Frage: Wie kam es zu der Idee? War dir immer schon klar, dass Mannheim aus der Vogelperspektive ein grafisches Potenzial an sich hat?

Christoph Niemann: Ja, ich mag Stadtplanung sehr. Mein Vater war Stadtplaner, und ich bin großer Landkarten-Fan! Ich komme aus der Residenzstadt Ludwigsburg, wo jede Straße exakt nach Norden, Süden, Osten oder Westen geht – wenn auch nicht ganz so präzise wie die Quadrate in Mannheim. Aber ich wusste immer, wie Karlsruhe aussieht und wie Mannheim aussieht. Und Brasilia als verrückteste Stadt! Die haben ein Flugzeug als Stadtplan. Solche Dinge fand ich immer faszinierend.

Frage: Wie ist das in der tatsächlichen Arbeit, auch mit den Mitarbeitenden? Wie ist es, dann wirklich so einen Raum einzunehmen, gerade auch im Unterschied zum Arbeiten mit Stift und Papier?

Mannheim zu Füßen

Christoph Niemann: Was ich mit den Raumarbeiten der letzten Jahre gelernt habe: Dass Kunst nur zu einem gewissen Grad mathematisch skalierbar ist. Theoretisch kann ich ja sagen: Ich nehme etwas von zehn Zentimetern Größe, vergrößere es einfach hundertfach, und dann ist es so groß wie ein Zimmer. Eine gelbe Fläche auf dem Papier ist gelb wie eine Zitrone. Aber Gelb in dieser Größe, das hat dazu noch eine physische Wirkung. Oder eine schwarze Wand, das ist so, als würde ich Musik stark aufdrehen, das geht nicht nur in die Augen, sondern durch den ganzen Körper. Dafür braucht man natürlich ein gewisses räumliches Vorstellungsvermögen, wie die Diagonalen um die Ecke laufen. Ich habe tolle Mitarbeiterinnen in meinem Atelier in Berlin, und auch die Zusammenarbeit mit dem Mannheimer Kunstverein war toll. Wir haben Pläne hin- und hergeschickt und geschaut: Wie spielt der Raum mit den Arbeiten? Was haben die Arbeiten für einen Rhythmus? Was hat der Raum für einen Rhythmus, und wie verteilen wir das dann?

Frage: Was ist denn dein Lieblingsmedium? Macht es dir mehr Spaß, kleinformatig mit Tusche und Papier zu arbeiten oder eher größer im Raum?

Christoph Niemann: Ich fühle mich daheim, wenn ich am Tisch sitze und im Radius meines Ellenbogens arbeiten kann. Was mich aber am meisten reizt, ist die Frage: Die schwarze Linie als Grundvokabel, wie viel kann ich da rauspressen? Also zunächst formal, ob ich mit dem Computer ein perfektes Rechteck bekomme, oder ob ich einen kaputten Pinsel habe, bei dem ich den Duktus wirklich sehe. Ob mit Tusche oder Linoldruck, ich bin immer noch in der gleichen Vokabel. Als nächsten Schritt interessiert mich die Größe: Was ist, wenn dieser Tuschestrich plötzlich drei Meter statt drei Zentimeter groß ist? Der Spaß, den ich dabei habe, ist: Es bleibt immer die gleiche Grundidee. Als ob ich eine Zutat habe und versuche, so viele Geschmäcker wie möglich aus dieser einen Zutat herauszukitzeln.

Frage: Also gibt es eigentlich keinen Christoph Niemann ohne die Linie?

Christoph Niemann: Ich mache auch schon andere Sachen, aber die Linie ist die Grundform, zu der ich immer wieder zurückgekommen bin. Der Strich ist die am meisten heruntergebrochene Grafik überhaupt, und alles andere ist eigentlich eine Variation davon. Vielleicht kann man sagen: Eine rote Linie ist wie eine schwarze Linie mit ein bisschen extra Sahne drauf. Aber die Ur-Marke stelle ich mir als Linie aus Kohle auf einem Stein vor, oder vielleicht mit einem Stock in den Sand gemalt.

Frage: Warum spielt bei deinen Arbeiten Schwarz-Weiß so eine große Rolle?

Christoph Niemann: Ich habe mich mittlerweile sehr mit Farbe angefreundet, wollte aber im Alter von 15 Jahren tatsächlich Schwarz-Weiß-Grafiker werden. Man konnte mit 15 schon mit Tusche so perfekt sexy schwarz auf weiß zeichnen. Dieser unfassbar tolle Kontrast mit Tusche auf Papier sieht so wahnsinnig professionell aus, mit Farben ging das nicht. Ich arbeite schon auch mit Bleistift oder Linoldruck, und natürlich kann ich mittlerweile Farben genauso präzise nutzen. Aber die Tusche, das war der Patient Null.

Frage: Was wahrscheinlich auch eine sehr große Inspiration ist, ist die Stadt. Und die Stadt, das ist vor allem New York?

Christoph Niemanns New York

Christoph Niemann: Also das hat nicht unbedingt etwas mit New York zu tun. Eine Zeichnung ist per Definition abstrakt, das sind ja nur Pigmente auf einem Stück Papier. Um die lesen zu können, muss ich als Betrachterin oder Betrachter schon ziemlich viel an gelernter Bildsprache mitbringen. Damit eine Zeichnung funktioniert, brauchen ich und die Betrachter einen gemeinsamen Erfahrungsmodus. Wenn ich jetzt zum Beispiel den Stadtplan von Mannheim nehme, dann kennt den fast jeder Mensch in Mannheim. Damit kann ich wahrscheinlich mit einer relativ geringen Referenz einen sehr komplexen Inhalt rüberbringen, wenn Sender und Empfänger ein sich überschneidendes Bildvokabular beherrschen.

In New York habe ich dann die U-Bahn, das Empire State Building oder die Freiheitsstatue. Das ist durch Film und Popkultur vielen Leuten vertraut. Das bedeutet, ich habe einen ganz großen Kulturerfahrungsschatz, mit dem ich plötzlich kommunizieren kann. Wenn ich dagegen auf einer einsamen Insel wäre und da gäbe es eine 17 Meter hohe Palme, die auf eine besondere Weise verknotet ist, dann würde die ja sonst niemand kennen. Damit kann ich natürlich nicht spielen.

Frage: Also geht es gar nicht so sehr um New York als New York, sondern es geht um New York als die Stadt-Stadt.

Christoph Niemann: Ja, als geteilten Erfahrungshorizont und als Quelle für Vokabeln, die ich nutzen kann, um mit diesen Bildern zu spielen und auch ein bisschen die Erwartungen neu zu definieren.

Frage: Wie ist es mit den eher abstrakteren Werken, die auch auf Instagram sehr viel Aufmerksamkeit bekommen, die bearbeiteten Fotos mit Zeichnungen? Woher kommt die Inspiration für solche Bildmanipulationen?

Werk von Christoph Niemann

Christoph Niemann: Die sind ein Stück weit auch als Übung entstanden. Zum physischen Zeichnen gehört vor allem auch das Sehen. Ich muss auch mich selbst ständig mit neuen Bildvokabeln füttern und ein Update machen von meinem Blick auf die Welt. Die sieht ja im Internet immer so aufgeräumt und gestellt aus. Deshalb mache ich mir einfach mal einen Schnappschuss von der Welt und schaue mir das mal wieder ganz genau an: Wie sieht denn so ein Stoppschild eigentlich genau aus? Oder wenn ich mir einen echten Stuhl anschaue, dann sieht der doch ein bisschen anders aus, als ich mir das immer vorgestellt habe. Und da ist tatsächlich die Arbeit mit diesen Fotos eine Übung, das Sehen wieder ganz präzise neu trainieren zu müssen, bis man dann selbst vielleicht eine neue Verbindung findet zwischen zwei Dingen.

Besondere Perspektiven bei „Kontrast“


Ausstellung von Christoph Niemann: Kontrast (Link)

Mannheimer Kunstverein, bis 28. April 2024
Katalog bestellbar: 15 Euro zzgl. Porto (Link)

alle Fotos dieses Beitrags © Markus Pfalzgraf

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