„… was ich sah: den Beweis, dass es Menschen auf Erden gibt, die willens und in der Lage sind, die Menschheit zu vernichten.“– Zitat aus John Brunners „Die dunklen Jahre“.
Christian: Es ist ein eher karges Science Fiction-Worldbuilding, das uns John Brunner am Anfang seines Romans „Die dunklen Jahre“ von 1973 bietet: Wirtschaftliche Verwerfungen sorgen für eine uneinheitliche Verteilung von Wohlstand, Bauprojekte liegen brach, die Arbeitslosigkeit ist auf dem Höchststand, die Inflation gallopierend, in Italien ist der Faschismus auf dem Vormarsch, in England geht die Armee gegen Streikende vor, die NATO droht zu zerfallen und der Klimawandel treibt die Menschen auch noch um. Dazu kommt, dass religiöse Fanatiker die Menschen unter Druck setzen und mit ihrem Kreuzzug gegen die Unmoral so weit gehen, dass sie die Darstellung von Geschlechtsorganen aus medizinischen Fachbüchern reißen und einfach vor Ort in den Büros verbrennen. Da kann der studierte Doktor nur mit dem Kopf schütteln, machen kann er nichts – sonst würden die guten Christen ihm doch nur mit ihren großen Kunststoffkreuzen das Kreuz versohlen und er dürfte sich sogar noch glücklich schätzen, so glimpflich davongekommen zu sein.
„Die dunklen“ Jahre handelt von einem ehemaligen Lehrer namens Maurice, der seinen Job verloren hat, weil er sich bei einer schulischen Werbeveranstaltung der Glaubensstreiter (Godheads) vor versammelter Schülerschaft respektlos gegenüber den fanatisierten Christen geäußert hat. ATHEISTISCHER LEHRER NACH SKANDAL ENTLASSEN stand in den Zeitungen, und auch Petitionen der Schüler halfen nicht, den talentierten Pädagogen zurück an die Schule zu bringen. Inzwischen sind auch Frau und Kinder weg, eine neue Freundin verschafft ihm zwar etwas Trost, aber das ändert nichts daran, dass die Welt trostlos geworden ist.
Viel SF ist das nicht gerade, eher eine nur leicht ins Paranoide verschobene Projektion der Verhältnisse, denn John Brunner ist ganz klar ein Autor, der in der SF den Bezug zur Gegenwart sucht. In The Stone that never fell down, wie Die Dunklen Jahre im Original heißt, beweist er vor allem, wie offensichtlich die heutigen Verhältnisse sich damals schon abzeichneten. Aber SF soll man ja nicht daran messen, ob sie damals gut orakeln konnte, sondern was sie uns heute, wo das Rad sich weiter gedreht hat, noch sagen kann.
Es ist – soviel sei verraten – die Wissenschaft, die uns alle retten wird. Ein Medizinforscher namens Maurice Post entwickelt eine Droge namens VK, die die positiven Eigenschaften von Halluzinogenen mit Arzneien gegen Geistesgestörtheit und Zerrüttung verbindet. Wer sie einnimmt, kann das Potenzial seines Gehirns besser nutzen und umgeht die evolutionär entstandene „selektive Unaufmerkasamkeit“, die einem im Idealfall hilft, sich zu fokussieren, was für die komplexen Probleme der Welt aber keine hilfreiche Eigenschaft mehr ist: Man schließt doch zu sehr die ebenso stichhaltige Gegenseite aus:
„Wir bezeichnen damit die Gewohnheit, eingehende Sinneswahrnehmungen in die willkürlichen Kategorien ‚wichtig/unwichtig‘ einzuordnen. Ich sage willkürlich, weil Maurice Post nicht mit den meisten Autoritäten übereinstimmte, die behaupten, gerade die gleichsam automatische Aussonderung aller ‚unwichtigen‘ Sinneswahrnehmungen sorge dafür, dass wir bei Verstand bleiben.“
Also nimmt Herr Post selbst sein Präparat ein, dann überzeugt er eine Kneipenbekanntschaft, den Lehrer Maurice, es ebenfalls zu versuchen. Die Wirkung ist verblüffend: Nach einer vorübergehenden Überforderung durch verstärkte Sinneseindrücke pendelt sich ein neues Gleichgewicht ein, das ihn ausgeglichener und bedachter handeln lässt. Auch kann er nun mit unumstößlicher Sicherheit prognostizieren, dass sämtliche der aktuell geschehenden Ereignisse mit unumstößlicher Sicherheit innerhalb des nächsten Jahres den Dritten Weltkrieg zur Folge haben werden: „Hatte man die Pulverspur erst einmal gesehen, so war es schwer, nicht zu glauben, dass ein Funke sie früher oder später in Brand setzen würde.“ Damit wissen nun schon zwei darüber Bescheid, wie fatal prädestiniert der eingeschlagene Pfad der Menschheit ist. Wenn doch nur alle Menschen …
Aber nun hilft der Zufall mit: Ohne auch nur zu ahnen, was für ein verhängnisvolles Virus er sich mit der Einnahme von VK eingefahren hat, geht Maurice recht unbekümmert Blut spenden und bringt damit in Umlauf, was alsbald nicht mehr aus der Welt zu schaffen sein wird. Ein verunglückter Einbrecher, ein durch eine Sprengfalle schwer verletzter Soldat, ein afro-britischer Aktivist, der überfallen wurde, und ein Prediger der Godheads, der einem Attentat zum Opfer fiel, werden unter den ersten sein, die, ohne es zu ahnen, mit VK infiziert werden – und so bündelt sich der zunächst sehr ausgefranste Roman, dessen zahlreiche Nebenplots zunächst zusammenhanglos nebeneinander standen, zu einer recht stringenten Erzählung, die von den gemeinsamen Erfahrungen derer handelt, die den Erstkontakt mit der Droge hatten.
Wird es aber gelingen, die Infizierten rechtzeitig zu erkennen und einzufangen? Und wie lassen sich deren Erfahrungen nutzen, um den eingeschlagenen Pfad der Welt, der unvermeidbar in die atomare Verwüstung führt, doch noch zu verlassen? Das sind die spannenden Fragen, die John Brunner teils recht unterhaltsam, teils aber auch thesenhaft und verplaudert, beantwortet. Brunner sieht sich halt doch auch in der Verantwortung, seinen Ansatz theoretisch zu unterfüttern. Auch die Frage, ob der Mensch Teil der Natur ist oder außerhalb davon zu sehen ist, spielt eine wichtige Rolle. Insgesamt ist Die dunklen Jahre ein engagiertes SF-Stück, wie es sie in den 70ern zuhauf gab. Langweilig ist es deswegen nicht. Eher ist die Akribie auf angenehme Weise anrührend.
Ach wenn ich es doch glauben könnte, dass es die eine objektive Wahrheit gäbe, die nur von jedem im vollen Ausmaß erfasst werden muss. Nur allen Menschen etwas VK in die Blutbahn und schon herrscht ewiger Weltfrieden, weil im Grunde jeder Mensch gut ist und sich nur im Klein-klein der ständigen Überforderung verzettelt, keiner hinter die Fassade des anderen blicken kann und allumfassendes Misstrauen die guten Lösungen allumfassend verhindert. Ein echter Hippie-Traum, dazu noch völlig rational und gezielt gegen Glaubensdogmen gerichtet. (Obwohl er ans Gute glaubt. Ist das nicht paradox?) John Brunners Roman endet mit dem optimistischen Fazit, dass die Menschheit den heißgelaufenen Aggregatszustand der Welt erfolgreich abkühlt und endlich den richtigen Weg einschlägt. Die Krankheit einer auf Egoismus getrimmten Gehirnevolution wird sozusagen mit der Medizin kuriert, die den Menschen wieder in Einklang mit der Natur bringt.
Diese alten Heyne-SF-Bücher aus der Ära, als Wolfgang Jeschke der Herausgeber war, sind wirklich eine Neuntdeckung wert.