In der Kolumne „Währenddessen …“ zeigt die Comicgate-Redaktion, was sie sich diese Woche so zu Gemüte geführt hat.
Vor etwas über einem halben Jahr haben sich einige Comicgate-Redakteure zusammengefunden, um in dieser Rubrik kollektiv über die damals frisch veröffentlichte erste Staffel von Marvels Daredevil in Form eines kleinen Währenddessen-Specials zu schreiben. Seit einer Woche ist nun Jessica Jones bei Netflix abrufbar und wieder wollten es sich ein paar von uns nicht nehmen lassen, ihre Eindrücke an dieser Stelle zu schildern.
Benjamin: Auf Jessica Jones hab ich mich persönlich sehr gefreut, weil ich die Comicvorlage Alias (die leider nie in deutscher Sprache erschienen ist) sehr mag. Die Comicserie ist auch sichtbar die Blaupause für die Fernsehadaption gewesen; hier wie dort steht eine kaputte Ex-Superheldin im Zentrum, die eine Privatdetektei betreibt und die von ihrem gedankenmanipulierenden Peiniger, dem grausamen Mann namens Killgrave, nicht loskommt.
Alexander: Als Gelegenheits-US-Comicleser kannte ich die Serie vorher gar nicht und war lediglich im Zuge von Daredevil und den News über David Tennants (Doctor Who) Auftritte neugierig gewesen. Inzwischen habe ich mir die Comics nachträglich geholt, werde aber warten, bis ich die erste Staffel beendet habe, um mir den Eindruck nicht zu verwässern.
Frauke: Ich bin in dieser Hinsicht ebenfalls Newbie und war dementsprechend völlig erwartungsfrei – außer, dass mir das im selben Setting angesetzte Daredevil schon verdammt gut gefallen hat und ich hoffte, hier ein ähnlich grimmiges, stimmiges Paket serviert zu bekommen.
Alexander: Ganz genau so ging es mir! Anfangs war dann erstmal Ernüchterung angesagt und dann war der Vergleich zu Daredevil auf einmal gar nicht mehr so passend. Aber dazu kommen wir ja noch.
Benjamin: Krysten Ritter in der Hauptrolle macht eine gute Figur, und das, obwohl ich sie vorher nicht unbedingt als geeignet eingestuft hätte. Doch alles in allem bewiesen die Macher beim Cast ein gutes Händchen, das zeigt auch der Blick auf Mike Colter als Luke Cage, der von Aussehen und Verhalten wie aus den Comicseiten geschnitten zu sein scheint (im positiven Sinne), und natürlich auf David Tennant als Killgrave, der ein nuanciertes Schauspiel abliefert.
Alexander: Ich muss Benjamin zustimmen. Krysten Ritter spielt die gebrochene Heldin mit einem Ehrgeiz und einer Natürlichkeit die bemerkenswert ist. Bei Tennant bin ich mir uneins, was aber auch an seinem Charakter liegt. Hier gibt es immer wieder großartige Momente, die besonders mit seinem Doctor Who-Hintergrund für den Zuschauer sehr faszinierend sind. Aber gleichzeitig ist sein Killgrave auch kein 08/15-Schurke (wie auch schon Vincent D’Onofrios Kingpin bei Daredevil). So gibt es immer wieder Szenen, in denen man dieser Figur geduldig zusehen muss, um abzuwarten, was sich nun entwickelt. Da mir noch ein paar Folgen fehlen, kann ich kein endgültiges Urteil fällen. So beeindruckend wie D’Onofrio als Kingpin ist Tennant nicht, aber er ist dennoch eine hervorragende Wahl und kann sich mit sichtbarer Spielfreude austoben. Mike Colter als Luke Cage verblasst für mich vor den beiden Hauptfiguren, aber auch vor anderen Nebenfiguren, leider zu stark. Ich sehe ihm gerne zu, aber er sticht für mich noch am ehesten als klassisches Comic-Element heraus. Colter macht aus dem Drehbuch das Beste, aber seine Rolle ist im Vergleich eine der schwächer geschriebenen.
Frauke: Och, ich hab Mike Colter gerne zugeschaut … :D Aber ich weiß, was Du meinst. Er wirkte zuweilen wie ein Lückenfüller, obwohl ihm auch eine knappe Hintergrundgeschichte gegönnt wird. Vermutlich nehmen die Autoren nur Anlauf für seine eigene Serie, die dann ja auch bei Netflix erscheinen wird. Wollte man ihn deshalb hier gar nicht so präsent zeigen, damit sein Luke Cage Luft nach oben hat? Die Schauspieler finde ich jedenfalls ebenfalls hervorragend gewählt; gerade David Tennant scheint es einen diebischen Spaß zu machen, einen Bösewicht zu spielen. Wobei er das Ganze sehr nuanciert und glaubwürdig rüberbringt. Im Gegensatz zu den meisten Superheldengeschichten gibt es hier nicht wirklich Schwarz-Weiß-Darstellungen. Jede Figur zeigt düstere, gnadenlose Seiten und mal mehr, mal weniger solche, bei denen man mitfühlen kann. Gerade bei Killgrave haben sich die Autoren viel Zeit genommen, seinen Hintergrund darzustellen, und so spitzt sich diese Darstellung für den Zuschauer gnadenlos zu, so dass ich zuweilen wirklich gepackt war und davon ausging, dass hier mal einer nicht den typischen Schurkenweg gehen wird. Allein dieses Merkmal lässt die Serie herausstechen aus vielem Superhelden-Einerlei.
Benjamin: Ich bin überrascht, dass ihr die Auftritte von Luke Cage so kritisch seht. Ich war viel mehr überrascht, dass er hier schon so viel Screentime bekam, wo seine eigene Serie doch erst folgt. Nein, da er in den Comics auch eine enge Verbindung zu Jessica besitzt, machte das in dieser Form durchaus Sinn für mich. Und einen perfekter vekörperten Luke Cage hätte man sich wohl kaum vorstellen können. Interessanter wird es sein zu beobachten, ob er dann eine eigene Staffel tragen wird. Und auch in Bezug auf die Schurken wird das für die kommenden Netflix-Luke Cage- und Netflix-Iron Fist-Seasons ein Knackpunkt, denn mit Killgrave und Kingpin hatte man nun zwei große Erzfeinde, die von charismatischen Darstellern inszeniert wurden. Ein Glücksfall, den ich mir bei den kommenden Projekten noch nicht vorzustellen vermag.
Frauke: Bei der Hauptfigur haben es die Autoren für meinen Geschmack allerdings übertrieben mit der Grauzeichnerei. Wenn ich mit dem designierten Bösewicht mehr mitfühle als mit der Heldin, dann hinterlässt das im Nachhinein ein etwas schales Gefühl. Jessica Jones ist durch die Bank weg grantig und frustrierend, was anfangs noch ganz amüsant war, mich aber zum Schluss hin doch genervt hat. Die schauspielerische Herausforderung hat Krysten Ritter dabei hervorragend gemeistert.
Alexander: Ich verstehe dein Problem mit der Grauzeichnerei. Ich ertappe mich regelmäßig dabei, wie ich Mitgefühl mit Killgrave unterdrücken muss. Vermutlich war das aber so gewollt, und obwohl einige erzählerische Mittel dazu fast schon vorhersehbar sind, ist es beeindruckend, wie gut die Autoren hier mit den Gefühlen der Zuschauer spielen.
Frauke: Ja, da wird der Zuschauer schon sehenden Auges in die Empathie-Ecke gedrängt, was aber nichts daran ändert, dass ich das als angenehme Abwechslung empfand.
Benjamin: Die Story an sich ist zwar nicht perfekt und vielleicht etwas zu gestreckt, aber sie bewegt sich in etwa auf einem Niveau mit der ersten Daredevil-Staffel. Bei beiden Serien versucht man Capes und Strumpfhosen so weit es irgendwie geht zu vermeiden und setzt auf einen hohen Gewaltpegel. Wie bewusst „realistisch“ Jessica Jones ist, kann man an Stimmen im Netz ablesen, die in der Serie ein Erwachsenwerden des Marvel-Cinematic-Universums oder eine starke feministische Darstellung als bewusstes Statement erkennen wollen. Ich weiß nicht, in wie weit sich die Produzenten darüber wirklich Gedanken gemacht haben, aber spürbar ist, dass sie vor potenziell heiklen Themen wie hartem Sex, lesbischer Liebe, Alltagsrassismus, Vergewaltigung und Traumata nicht zurückschrecken. Hier gibt es sogar eine Aufstellung von zwanzig Punkten, die im MCU zum ersten Mal überhaupt behandelt werden (möglicherweise milde Spoiler, wenn man die Staffel noch nicht komplett gesehen hat.
Alexander: Subjektiv ist Jessica Jones für mich weit weniger gewalttätig als Daredevil, aber vielleicht liegt das auch nur daran, dass hier die Psycho-Elemente viel mehr hervorstechen. Das könnte auch der Grund sein, dass es eine Weile dauert, bis die Serie einen richtig packt. Aber dann entfaltet sie ihr volles Potenzial und lässt die Konkurrenz (vor allem den schon erwähnten Daredevil) eher banal erscheinen. Zum einen gibt es hier viel mehr tatsächlich interessante und gute Nebenfiguren, zum anderen sind die menschlichen Abgründe weitaus größer. Besonders die Themen Vergewaltigung und Traumata ziehen sich ganz stark durch die Serie durch und werden mit großer Differenziertheit behandelt. Auch wie wichtig das Thema Cyber-Stalking und Mobbing sein kann, wird hier auf einprägsame Art und Weise gezeigt. Dem Interessierten sei dazu auch noch dieser Artikel empfohlen. Von Anfang an wird klar, dass es keine perfekte oder auch nur harmonische Lösung gibt.
Benjamin: Weniger gwalttätig? Vielleicht vordergründig, was auch daran liegt, dass choreografierte Martial-Arts-Kämpfe hier nicht so präsent sind wie in Daredevil und stattdessen die Menschen von einer Ecke in die nächste geschleudert oder dortdauernd durch Pappmachewände brechen. In Sachen Brutalität ist Jessica Jones allerdings stellenweise sogar noch radikaler als Daredevil, bezieht man die psychische Gewalt mit ein, dann ohnehin. Aber welcher Gewichtung man solchen Dingen bezüglich der Qualität einer Serie auch immer beimisst, so ist es jedenfalls bemerkenswert, dass sie in einem Marvel-Machwerk so ausführlich und tiefgehend ihren Platz finden dürfen. Zusammen mit der überdurchschnittlich guten darstellerischen Leistung macht dies Jessica Jones zu einer mehr als ansehnlichen Drama. Und die kleinen erzählerischen Schwächen werden durch indirekte Comicreferenzen und Easter Eggs durchaus kompensiert.
Frauke: Ja, die Serie hat durchaus Längen. Ist aber trotzdem erzählerisch auf einem ganz anderen Niveau als 08/15-Kost wie Grimm, Supernatural, Flash, Once Upon A Time und vielen anderen erfolgreichen aktuellen Produktionen. Sie entwickelt die Figuren, lässt frühere Elemente wiederauftauchen und macht auch gerne mal Quatsch. So lästern die Protagonisten ausschweifend über den für seine Absichten viel zu offensichtlichen Namen des Schurken – worüber der Zuschauer sich sicherlich auch schon seine Gedanken gemacht hat. Aber diese dann auf dem Bildschirm in der Serie ausgesprochen zu sehen, hat durchaus seinen Charme.
Alexander: Ich muss mich hier anschließen und gehe sogar noch etwas weiter. Jessica Jones hat seine Längen und fixt den Zuschauer nicht sofort an, auch ist die Handlung manchmal ein wenig verworren, wenn man nicht genau aufpasst. Aber wenn man all das beiseite lässt, hat man eine ausgesprochen hochwertige Serie, die vom Drama immer mehr zum Psychothriller mutiert und sich abseits ausgetretener Pfade bewegt. Ihr Mut, Comicfiguren als zerbrechliche und oft auch hässliche Menschen darzustellen und dies nicht unter überladenen Bildern zu übertünchen, macht sie für mich zur bisher tiefschürfendsten Comic-Umsetzung. Sie holt den Leser genau da ab, wo die Watchmen-Verfilmung einst grandios gescheitert ist und zeigt ihm, dass Superheldencomics auch ganz schön hässlich sein können.
Am Ende herrscht das schlechte Gewissen: Darf man mit jemandem wie Killgrave noch Mitgefühl haben, verdient er wirklich Respekt? Und kann man Jessica ihren Dickkopf ewig verzeihen? Endlich wieder Fernsehen, das man nicht einfach nur konsumiert. Will man sich der Serienwelt von Jessica Jones nähern, muss man sich mit ihr intensiv auseinandersetzen.
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Deutscher Trailer:
Originaltrailer:
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