Warum nicht mal wieder Stephen King lesen?
Christian: Ich habe dieses Jahr viele Romane gelesen, darunter tolle Sachen wie John Brunners Schockwellenreiter und C. J. Sansoms Feindesland. Aber bei Stephen Kings Sara (1998) hatte ich zum ersten Mal seit Ewigkeiten das Gefühl, dass ich es hier mit einem Autor zu tun habe, der wirklich schreiben kann.
Stephen King lese ich seit den 80ern. Als ich noch nicht wagte, mir Filme wie Alien auf VHS anzusehen, habe ich mich als 13/14-jähriger an Sachen wie Brennen muss Salem oder Christine gewagt. Mit Cujo konnte ich als Bub eher wenig anfangen, da ging es doch ein bisschen zu sehr um Erwachsenenprobleme, alles andere war aber schon sehr faszinierendes Zeug. Mit der Zeit kamen die Filme dazu. Bald hatte man durchschaut, dass Stephen King-Verfilmungen nicht an die Bücher rankommen.
Das hat sich irgendwann aber umgedreht. Natürlich waren die B-Movies der ausgehenden 80er, die sich an Kurzgeschichten orientierten, Manchmal kommen sie wieder oder Graveyard Shift, richtige Gurken, und das galt vor allem auch für den von King selbst gedrehten Rhea M. Aber man hat dann schon gecheckt, dass Dead Zone, Carrie, Shining oder Stand by Me wirklich großartige Filme sind. Später kamen weitere tolle Filme dazu, Die Verurteilten, oder Dolores, der viel zu selten genannt wird, wenn von guten King-Verfilmungen die Rede ist, und der mir als Film viel besser gefällt als Misery – von dem liebe ich den Roman deswegen so sehr, weil ich die Binnenerzählung der Misery so faszinierend finde, die im Film ja leider völlig fehlt.
In den 90ern ist King für mich uninteressant geworden. Zwar war die rote Es-Ausgabe seinerzeit ein faszinierendes Monolith, trotzdem waren von diesem Moment an alle weiteren King-Bücher von ausgemachter Hässlichkeit und die Ein-Wort-Titel die größte vorstellbare Marketing-Katastrophe. Es fing an mit „Sie“ im hässlichen türkisen Umschlag, dann Schwarz im neuen Einheitslook, ebenso Drei, dann Tot. Ich probierte mich trotzdem an Langoliers und fand den Plot so an den Haaren herbeigezogen, dass ich nach 50 Seiten aufhörte. Der Film-Buff in mir urteilte jetzt, dass King-Bücher vor allem Rohstoffe für gute Filme waren, aber Gaiman, Moore und Morrison waren längst viel cooler geworden. Ich wollte King ja gut finden, aber es wurde immer mehr zum Wunschdenken und war keine echte Überzeugung mehr. Man akzeptierte ihn gerade noch als Horror-Spezialist und sympathischen Typ, der Batman lieber mochte als Superman. (Und irgendwie unterstellte man ihm auch noch, dass er seine Energie verloren hat, seit er clean war. Was man halt so glaubt, wenn man noch keinen Plan vom Leben hat.)
Der große Moment, der mich King wirklich wieder entdecken ließ, kam, als ich letztes Jahr Friedhof der Kuscheltiere las. Ich hab den Roman schon seit den 80ern von mir ferngehalten, weil ich nicht lesen wollte, was ich eh schon wusste: ein Vater verliert sein Kind, vergräbt es auf einem magischen Friedhof, Kind steht wieder auf und bringt Eltern um. Das kam mir einigermaßen sinnlos vor und ich hatte keine Vorstellung, dass es hier noch mehr als sonst darauf ankommt, WIE es geschrieben ist. Pet Cemetary ist ein Buch, das wirklich jeder gelesen haben sollte. Darüber ist man sich auch beim Podcast „Projektionen-Kinogespräche“ einig, wo die Moderatoren satte zwei Stunden über Stephen King diskutieren. Friedhof der Kuscheltiere wird dort als einer der wenigen Romane Kings gesehen, in dem der Autor schon zu Anfang gewusst haben muss, worauf er am Ende zusteuert.
Sara, oder Bag of Bones, wie der Roman im Original heißt, ist da anders. Er gehört zu der Variante King-Roman, wo King einen Erzählfaden bis zur Mitte des Buchs legt und dann einen neuen Faden findet, der das Buch in eine überraschende Richtung weiter entwickelt. Bei Sara hat King dann aber auch tatsächlich den goldenen Faden gefunden, der die Geschichte buchstäblich bis zur letzten Seite spannend bleiben lässt.
Wie bei Pet Cemetary ist es wenig zielführend, den Plot zusammenzufassen. Es würde sich anfühlen, als würde die Geschichte in unterschiedliche Geschichten zerfallen und King nicht gewusst haben, worauf er hinaus will. Geht es um einen Sorgerechtstreit, im Kern eine Anwalt-Geschichte im John Grisham-Stil? Aber was sollen dann die geisterhaften Botschaften im Spukhaus, in dem die Hauptfigur Mike Noonan wohnt? Dabei erzählt uns King nebenbei noch eine freundschaftliche Beziehung Noonans zu einer jungen Mutter, die nur halb so alt ist wie er, woraus mit der Zeit eine einfühlsame Liebesgeschichte entsteht. Das hätte alles sehr schief gehen und kitschig werden können, aber King macht die Figuren so plausibel und lebendig, dass man nur staunen kann. Dreißigseitige Dialogpassagen, die sich lediglich in einem Zimmer abspielen, sind keine Seltenheit. Sie sind die besten Passagen des Romans. Kurz nach der Hälfte stirbt der Schurke des Romans und King verbringt eine Unmenge von Seiten damit, davon zu erzählen, wie das Romanpersonal daran arbeitet, zu einem normalen Leben zurückzufinden, was so einnehmend und voller Liebe zu den Figuren erzählt ist, dass man auf keinen Fall möchte, dass noch einmal etwas Schlimmes geschieht. Aber natürlich schwelt schon das Unheil im Untergrund, und man spürt es gerade, weil es so lange nicht präsent ist.
Sara ist ein Roman, wie man ihn zum Leben einfach braucht, und die letzten 150 Seiten, nachdem der Alptraum dann eben doch zurückkehrt, gehören zum Spannendsten, was ich 2023, ach was, seit 2000, in Händen halten durfte. Am Ende entlässt uns King dann mit einer pointierten inneren Figurenrede, die ich jetzt aber nicht mal ansatzweise zitieren möchte, weil jeder Leser selbst das Vergnügen haben sollte, das von King selbst aus erster Hand zu erfahren. Nur so viel: es geht um die Verantwortung eines Autors gegenüber seinen Figuren und man merkt: King ist es sehr ernst damit.
Ich weiß jetzt, dass ich mit King noch lange nicht fertig bin. Ich schätze es sehr, dass ich einen Autoren an meiner Seite habe, der mich mein ganzes Leben, durch sämtliche Phasen hindurch, begleitet.