Aly Fell belebt das klassische britische Mädchencomic neu. Christian gefällt das.
Christian: Die britische Comicrevolution begann nicht erst in den 1970ern mit 2000 AD. Schon davor wurden Erzählmittel gefunden und Nischen entdeckt, die in den Jahren danach enorm einflussreich sein sollten. Eine Nische war der britische Mädchencomic. In Karl Stocks Buch Comic Book Punks – How a generation of Brits reinvented pop culture wird dazu Gerry Finley-Day zitiert: „If there was a conflict in a boys‘ comic, they’d have a punch-up, whereas in those days girls‘ comics had to be more Jane Austen, you know? For characters to get the better of somebody required decent plotting.“
1978 rief 2000 AD-Gründer Pat Mills die Serie Misty ins Leben, ein Mädchencomic mit starkem Mystery-Touch. „Moonchild“, die erste, von Mills geschriebene Story ist eine Variation des Carrie-Themas, worin sich eine telekinetisch begabte Schülerin gegen üble Mobber zur Wehr setzen muss, danach übernahm der Autor Malcolm McShaw das Storytelling. Shaws „Four Faces of Eve“ ist eine effektvolle Mystery-Story, in der sich eine junge Frau Flashbacks ausgesetzt sieht, die sie an einen entsetzlichen Unfall erinnern, während sie von ihren Eltern streng von der Außenwelt abgeschirmt wird, die sie dabei gleichzeitig aber über ihre Vergangenheit und ihre Identität im Unklaren halten. Shaws zweite Geschichte, „The Sentinels“, genießt Kultstatus. Eine junge Familie verliert ihren Wohnsitz und droht, vom Jugendamt auseinandergerissen zu werden. Deshalb beschließen sie, illegal in einem verlassenen Hochhaus unterzukommen, von dem es heißt, dass es darin spukt. Tatsächlich befindet sich in diesem Hochhaus ein Portal zu einem alternativen England, in dem die Nazis England besiegt haben. Bald trifft die Heldin Jo ihre Doppelgängerin und das Pendant ihres Vaters, der dort als Partisan untergetaucht ist. Die Verwicklungen nehmen ihren Lauf, als Jos Vater von der Gestapo verhaftet wird, während dessen Alter Ego im wahren England eine vorübergehende Zuflucht findet. „The Sentinels“ ist eine fesselnde Geschichte in 12 Kapiteln, die ihre Leser sowohl mit sozialen Problemen diesseits des Dimensionsportals konfrontiert als auch mit dem Horror der Parallelwelt.
Die Zeichnungen sind in dem realistischen Stil ihrer Zeit gehalten, den man hierzulande wohl zuletzt in den Panini-Neuauflagen der britischen Serie Die Eiserne Hand sehen konnte, ein sehr zweckmäßiger Stil ohne besondere Akzente. Wirkungsvoll war bei diesen Comics nicht zuletzt die reißerische Erzählweise mit Cliffhangern und Erzählschleifen, die das Unheimliche verlässlich in Erinnerung hielten. Auch hatten Künstler wie Mario Capaldi oder John Richardson ein gutes Gespür dafür, in harten Schwarzweiß-Kontrasten Atmosphäre zu erzeugen. Nicht unterschätzen sollte man aber auch den Einfluss von Shirley Bellwood, deren atmosphärische Misty-Portraits die Titelbilder zum ständigen Blickfang machten.
Das umwerfende Artwork von Shirley Bellwood dürfte auch die Motivation für Aly Fell gewesen sein, sich der Tradition britischer Mädchencomics zuzuwenden. Beide seiner Arbeiten für dieses Genre sind Geschichten um Trugbilder und Geistererscheinungen, beide zeichnen sich in erster Linie durch Frauendarstellungen aus, die in nahezu jedem Panel an Bellwoods Portraits erinnern. Aly Fell hat seine Arbeiten als Crowdfunding-Projekte umgesetzt, im Falle von The Kissing Gate können sich deutsche Leser der Ausgabe von Skinless Crow zuwenden, A Trick of the Light dagegen ist nur beim Künstler selbst über Etsy zu erwerben.
A Trick of the Light funktioniert stärker noch als The Kissing Gate über die Ankündigung der Sensation. „What is the dark secret of the standing stones?“ heißt es da, dazu die Porträts von zwei attraktiven Frauen in wunderschöner englischer Landschaft. Anders als bei Misty ist helles Tageslicht angesagt und im Innenteil stehen Welten zwischen Fells elaboriertem Stil und den zweckmäßigen Arbeiten der Künstler der 70er. Aber Fell versteht es, den Wunsch nach Mystery ins 21. Jahrhundert hinüberzuretten, auch wenn es weniger politisch und gritty zugeht als in den legendären Geschichten von damals. A Trick of the Light ist eine nur 32-seitige Story, in der Fell eine einzigartige verträumte Atmosphäre gelingt mit einem Twist, der wie ein fernes Echo der Realitätsverschiebung von „The Sentinels“ wirkt. Aly Fell gelingt eine visuell originelle Geschichte, die sich gegenüber den klassischen Vorbildern auch dahingehend abhebt, dass das Artwork des Innenteils ähnlich bezaubernd ist wie das Covermotiv. Gut, dass Aly Fell dank seiner Veröffentlichungsweise keine Kompromisse eingehen musste; seine Arbeiten dürften aber auch bei einem breiteren Publikum Anklang finden.