Warum ist der Film Everything Everywhere all at once ein so ganz und gar anderer Multiversum-Film?
Christian: In Everything everywhere all at once vergeht so gut wie keine Minute, in der nicht von einer Dimension in die nächste gehoppt wird. Stories über Parallelwelten zerfasern ja gerne mal und lassen Parallelwelten mehr oder weniger beliebig nebeneinander stehen.
Eine Multiversum-Erzählung muss gut motiviert sein. In Comics hat sich die Idee eines Multiversums oft als Beifang herauskristallisiert, um über die Jahrzehnte entstandene Widersprüche in der Chronologie einer Figur in Griff zu kriegen. Manchmal sind es auch kleine What If-Ideen und Elseworlds-Szenarien, die sich im Nachhinein am besten in einem Multiversum verorten lassen, in dem schließlich jede Spielart irgendwo ihren Platz finden muss. Diese Multiversum-Stories sind häufig wenig zielführend, aber natürlich sind sie Fun.
Das ist Everything Everywhere auch, aber das Herz des Films liegt dabei völlig in der einen – unseren – Welt, auch wenn im Film mehrfach das Gegenteil behauptet wird. Das Multiversum, und das wird jetzt nicht im Film formuliert sondern ist meine Einschätzung, ist die Summe sämtlicher Entscheidungen, die nicht gefällt wurden, während das Universum die eine und einzige Welt ist, in der man lebt und wo man die Last der Entscheidungen zu tragen hat, die man gefällt hat. Nun, in der Imagination wie im Film aber lässt sich durchspielen, was alles hätte passieren und sein können, so dass im Film die reale mit den unendlich möglichen Welten parallel geführt werden kann. Das erlaubt interessante Gedankenspiele.
In Everything Everywhere wird mit diesem mächtigen erzählerischen Werkzeug die Entwurzelung und der Neuanfang von Migranten thematisiert. Das Multiversum manifestiert sich vor diesem Hintergrund dringlicher als beispielsweise in einem Superhelden-Szenario, wo recht beliebige Fragen gestellt werden wie, „Was wäre, wenn der Batman ein Gangster wäre“. Ein Migrant tritt ganz real eine Reise ins Unbekannte an, er tritt buchstäblich in ein anderes Universum über. In seiner Heimat mag der nun Geflüchtete vielleicht Lehrer oder Doktor gewesen sein, in der neuen Welt arbeitet er als das, was ihm ermöglicht wird, und weil er der neuen Sprache nicht in der gleichen Weise mächtig ist wie der Muttersprache, kann er nur eingeschränkt sein Potenzial zeigen, muss dabei aber kreativ und geschäftstüchtig sein.
Es ist kein Zufall, dass das erzählerische Zentrum von Everything Everywhere das Finanzamt ist, denn gerade in den Zentren der Bürokratie befindet sich oft der inoffizielle Lebensmittelpunkt von Einwanderern. Der Kampf mit Formularen und der bürokratische Nachweis überlagert monströs das Leben, wo eigentlich andere Schwerpunkte sein sollten. Hier ist es lediglich die neueste von unendlich vielen Schaltstellen, an denen sich entscheidet, welcher Pfad in Zukunft genommen wird.
In eine fremde Welt geworfen, mit den hiesigen Umgangsformen nicht vertraut – Everything Everywhere findet immer wieder geniale Bilder für Kulturschock und Fremdheit, so die Wesen mit Wurstfingern, deren Lebensart man sich nun auch noch anzueignen hat. Gleichzeitig befallen dich Gedanken, wie das Leben eben auch sein könnte, zu Hause, im ursprünglichen Kulturkreis, der einem einerseits näher, andererseits aber durch die gewählte neue Umgebung unerreichbar geworden ist und so bettet man Artefakte der alten Welt in der neuen Realität ein und konserviert sie. So viele unausgelebte Potenziale, stets präsent und doch unerreicht. Schwierig ist das auch für die Kinder, die es besser haben sollen, aber mehr noch als die Eltern im Spannungsfeld zweier Kulturen aufwachsen. Unzählige Filme, nennen wir einfach mal die britische Komödie East is East, erzählen von solchen Konflikten. Everything Everywhere gelingt dies auf andere Weise, weniger eindeutig, unendlich viel anschlussfähiger.
In Teilen wirkt Everthing Everwhere wie eine üppige Kunstinstallation zum Thema Migration. Man könnte an jeder Station verweilen und sich vertiefen – aber: getroffene Entscheidungen lassen sich nicht rückgängig machen. Erst in der Rückschau sieht man, welche Konsequenzen sich durch getroffene wie verpasste Entscheidungen ergeben, erst in der Rückschau wird daraus eine kohärente Geschichte. So viele Fragen, in Everything Everywhere gründlich herausgearbeitet und gleichzeitig ins Allgemeingültige verschlüsselt, anwendbar auch für Schicksale, die nicht aus dem Migrationskomplex kommen.
Nein, die Oscar-Academy hat sich nicht verzettelt. Wie damals 1994 bei Pulp Fiction hat man den Zeitgeist erkannt und einen richtungsweisenden Film prämiert. Interessanterweise haben einige Menschen meiner Umgebung den Film völlig anders wahrgenommen, offensichtlich gibt es auch ein Multiversum an Deutungsmöglichkeiten. In der besten aller Welten gäbe es eine Spielbuchadaption davon. Es hätte viele Stationen.
Witzig auch: im Grunde erzählen gerade Jens Harders bombastische Evolutionsschauen Alpha und Beta ganz ähnliche Geschichten. Willkürlich erscheinende Entwicklungen und Veränderungen über die Jahrmillionen, wo sich in ferner Zukunft auf unerwartete Weise Vergangenes widerspiegelt und immer wieder neu variiert wird. Wie in einem Paralleluniversum, tatsächlich aber auf einer linearen Zeitachse. Durch die Cut-Up-Erzähltechnik lassen sich auch hier die Zeitalter parallelführen. Die Auswahl ist teils an der Schwelle zur Beliebigkeit, aber die Beziehungen doch stets offensichtlich. Da Harder ein sehr origineller Sammler von Ideengeschichten ist und sein Handwerk als Erzähler versteht, entsteht immer wieder Erhellendes daraus.