Heute steht Währenddessen ganz im Zeichen des Gigantismus. Es geht um Clive Barkers Kurzgeschichte „In the Hills, the Cities“, die von John Bolton auch als Comic adaptiert wurde.
Wenn es einem Autor im begrenzten Umfang einer Kurzgeschichte gelingt, mit etwas sehr Grundsätzlichem über die Verfasstheit des Menschen zu überraschen, dann ist das alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Clive Barker gelingt dieses in der letzten Story seines ersten Book of Blood auf meisterhafte Art und Weise: „In the Hills, the Cities“ ist außergewöhnlich.
Es beginnt mit einem schwulen Paar auf einem Roadtrip durch eine sehr weit abgeschieden liegende Hügellandschaft im ehemaligen Jugoslawien. Die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein, nach erster Zuneigung füreinander geht man sich während der zunehmenden Dauer des Trips nur noch gegenseitig auf den Geist. Judd hält ohne Unterbrechung Monologe über politische Philosophie und verachtet seinen Partner Mick dafür, dass er ein politisches Leichtgewicht – in seinen Augen eine „Queen“ – ist, der kulturaffine Mick dagegen erträgt Judds seelenloses Politisieren nicht: „Jesus, it was mind blowingly boring; killingly, love-deadiningly boring.“ Und doch: leidenschaftlicher Sex abseits der Straße (riskant, man ist hier ja nicht in San Francisco) bringt Frieden in die Kampfzone. Mick besteht danach nicht mehr darauf, ein weit abgelegenes Kloster zu besichtigen, Judd lässt ab von seinem politischen Furor, der auch der Langeweile während der langen Autofahrt geschuldet war. Gibt es doch noch eine Chance für die beiden?
Andernorts, in den Hügeln, bahnt sich Folk-Horror ganz eigener Art an. Zwei Städte, Popolac und Podujevo, begeben sich alle 10 Jahre in den Wettstreit miteinander, wer den besseren Riesen bauen kann. Der ganze Ort ist auf den Beinen, jeder will Teil der großen Gemeinschaft sein, wenn alle sich daran machen, in Menschenpyramiden unter Zuhilfenahme von Seilen erst einzelne Glieder, dann den ganzen Riesen aufzubauen. Eine ernste Sache, die unter der strengen Anleitung erfahrener Ältester stattfindet, hochgradig identitätsstiftend: „Let America have their simple pleasures,“ sinniert der Anführer von Popolac an seinem großen Tag, „its cartoon mice, its candy-coated castles, its cults and technologies. […] The greatest wonder was here, hidden in the hills.“ Mit größter Opferbereitschaft bildet man dieses Jahr einen Riesen, noch größer als bisher, wächst immer weiter über sich hinaus. Was ist schon der Tod angesichts des Wunders, Teil einer so großen Sache sein zu dürfen? Wie viel reicher wird das Leben sein, wenn man erst darauf zurück blicken kann, Teil dieser Sache gewesen zu sein?
In Podujevo ist man ähnlich enthusiastisch, bindet sich in absurdem Gigantismus zusammen, aber die neue Anleiterin ist unerfahren und muss die großen Fußstapfen ihrer Vorgängerin füllen, die gerade erst mt 94 Jahren gestorben ist. Podujevo versäumt dieses Jahr, auf Sicherheit zu achten und errichtet doch, komme was wolle, seinen Riesen. Aber er wird fallen: Tausende von Menschen werden stürzen und zerschellen, eine Blutfontäne die Straße herunterschwappen. Mick und Judd wird dieser Horror völlig unvorbereitet treffen. Sie werden nur den riesigen Berg zerschellter Menschen sehen, sowie Podujevos Anleiterin, wie sie in Verzweiflung über die Katastrophe mit dem Revolver umherirrt und die, die noch leben, erschießt – vor allem die Kinder; am Ende steckt sie sich selbst die Waffe in den Mund. Als Mick und Judd entsetzt das Weite suchen wollen, sehen sie, dass Vaslav Jelovsek, der Anleiter des noch existierenden Stadtriesen von Popolac, ebenfalls vom Entsetzen gepackt, ihr Auto stiehlt. Er will seinen Riesen zur Vernunft bringen, die Menschen wieder entflechten. Aber das Monster hat bereits einen eigenen Sinn entwickelt und entzieht sich jeder Vernunft. Immer weiter stapft er: die Menschen in den Füßen sind bereits zerquetscht, alle anderen dazu gezwungen, immer weiter diesem Körper zu dienen, der offenbar keinen Verstand hat.
Für die Nacht werden Judd und Mick Unterkunft bei einem Bauernpärchen finden. bis der Riese zurückkehrt. Während die Hütte und Judd unter dem Fuß des Riesen zerquetscht werden, nutzt Mick seine Chance und verschmilzt mit dem Körpergewimmel des Riesen. Er verliert damit allen Bezug zu dem, was er war und wird nun immer Teil einer neuen Bestimmung sein, wird Teil des kollektiven Wahnsinns des Riesen. Clive Barker aber beendet die Story mit einer Beschreibung dessen, was aus Judd wird:
„After a day, birds came, foxes came, flies, butterflies, wasps came. Judd moved, Judd shifted, Judd gave birth. In his belly maggots warmed themselves, in a vixen’s den the good flesh of his thigh was fought over. After that, it was quick. The bones yellowing, the bones crumbling: soon, an empty space which he had once filled with breath and opinions. Darkness, light, darkness, light. He interrupted neither with his name.“
Kann man schöner den Gegensatz zwischen Zivilisation und Natur abbilden? Zivilisation führt, auf die Spitze getrieben, in die Irre; Natur dagegen ist völlig indifferent, bietet aber wenigstens den Trost der völligen Auflösung. Wieso nur wärmt mich diese Geschichte so? Aber Clive Barker erzählt eben trotz allem Surrealismus plastisch und lebensnah. Der Riese ist dabei eine völlig neuartige Form von Monster und Barker gelingt hier, was bei Lovecraft stets nur behauptet wird: erstmals kann ich glauben, dass der Anblick dieses Monsters tatsächlich denjenigen, der es sieht, in den Wahnsinn treiben kann:
„But surely the most amazing sight of all was his face. Cheeks of bodies; cavenous eye-sockets in which heads stared, five bound together for each eyeball; a broad, flat nose and a mouth that opened and closed, as the muscles of the jaw bunched and hollowed rhythmically. And from that mouth, lined with teeth of bald children, the voice of the giant, now only a weak copy of its former powers, spoke a single note of idiot music.“
Wenn ich das lese, habe ich das Gefühl, eine sehr profunde Wahrheit über die wahre Natur des Menschen vermittelt zu bekommen. Surrealismus in seiner besten Form kann das leisten.
Es gibt eine Comic-Adaption von John Bolton, die in den ausgehenden 1980ern für eine Barker-Anthologie-Reihe bei Eclipse Books angefertigt wurde. Die Adaption folgt dem Originaltext wortgetreu und illustriert mehr oder weniger den gekürzten Originaltext in Panels. Aber die Bilder, die Bolton hier gefunden hat, sind fantastisch: wer beim Lesen der Story noch Schwierigkeiten hatte, sich Menschentürme in Seilschlingen vorzustellen, hier sind die kongenialen Bilder dazu. Die letzte Nacht der beiden Freunde sieht unheimlicher aus als die meisten Nächte, die ich je in Comics zu sehen bekam und der Kopf des Riesen ist in der Raffinesse der Darstellung den berühmten Gemüseköpfen Guiseppe Archimboldos ebenbürtig, nur eben die Horror-Version davon. Was für eine Entdeckung das wäre, wenn die alten Tapping the Vein-Comics mit ihren Clive Barker-Adaptionen wieder ausgegraben und erstmals in einem angemessenen Format neu aufgelegt werden würden.