Dämonischer als Richard Donners Omen, abgründiger als Brian de Palmas Dressed to Kill, eleganter als Mario Bavas Diabolik. Osamu Tezukas MW, ein Manga-Thriller von 1978, entstammt einer Schaffensphase Tezukas, in der sich der Künstler erwachsenen und düsteren Themen verschrieben hatte.
MW ist ein chemischer Kampfstoff, streng geheim auf einer abgelegenen japanischen Insel in einer Militärbasis gelagert. Irgendwann in den 1960er Jahren entführt dort eine Gruppe Hippies den Sohn eines wohlhabenden Seglers, um Lösegeld zu erpressen. Sie verschleppen den jungen Yuki in eine Höhle, wo er vom Bandenmitglied Garai bewacht wird, während sich das Unglück ereignet: Eine Wolke MW tritt aus und tötet sämtliche Bewohner der Insel, lediglich Garai und Yuki überleben, weil das geheime Versteck höher gelagert ist. Es folgt eine von höchsten Kreisen angeordnete Vertuschungsaktion. Niemand weiß, dass es zwei überlebende Zeugen der Katastrophe gab.
MW ist ein Buchstabenpaar, das auch auf dem Kopf gelesen werden kann. So gegensätzlich wie die Buchstaben MW sind auch Yuki und Garai, die beiden Überlebenden der Katastrophe. Beider Leben macht nach dem einschneidenden Erlebnis auf der Insel eine Kehrtwendung um 180°: Garai, der Entführer, will fortan ein gutes Leben führen. Er wird Priester, um sich von seinen Sünden reinzuwaschen. Yuki dagegen, der entführte Junge, wird erst nach dem Erlebnis bösartig, kalt berechnend und soziopathisch. Zwar wird seine spätere Mordlust und Empathielosigkeit vage durch den Kontakt mit MW begründet, es ändert indes nichts an der willkürlichen Kontingenz, mit der die Verkettung von zufälligen Ereignissen die entscheidende Weiche stellt.
Wie der Buchstabe fällt, ob M oder W, ist immer dem Zufall geschuldet, freier Wille bleibt eine Illusion, Gott würfelt. War es das Gift, das Yuki böse werden ließ, oder war es Garais sexuelle Übergriffigkeit, als der Entführer und sein jugendliches Opfer die Nacht in der Höhle verbrachten? Es ist eine vielschichtige Verwerfung, die Garai und Yuki fortan aneinander kettet und zu einer destruktiven Abhängigkeit voneinander führt. Die Frage nach Kausalitäten indes führt zu nichts, wird doch durch jede Ursache doch nur getriggert, was als Anlage ohnehin in jedem Menschen schlummert. Jeder kann jederzeit und immer kippen. Vom Guten zum Bösen und vice versa.
MW ist nicht nur der deutsche und internationale Titel diese phänomenal spannenden Thrillers, die europäischen Lettern MW zierten bereits die japanische Erstausgabe von 1976. Tezuka hatte schon immer das auf den Kopf gedrehte Zeichen im Sinn. Wie ein Kreuz, das umgedreht Satanismus symbolisiert, stehen M und W, wobei das Gute viel zu fehlbar ist, das Böse jedoch stets zielstrebig weiß, was es will – Zerstören ist immer einfacher als Aufbauen. Dämonisch wie Damien in den Omen-Filmen bringt Yuki Unheil über die Menschen und nimmt die Gutgläubigen doch für sich ein. Wie Michale Caine in Dressed to Kill kann er in männliche und weibliche Rollen schlüpfen. Crossdressing ist in MW etwas Dämonisches, dem Mann in Frauenkleidern ist nicht zu trauen, denn er ist etwas anderes, als er vorgibt, zu sein – ein Klischee, das sich schon überlebt hatte, als Frauen zum ersten Mal ungestraft Hosen anziehen konnten. Im Horror halten sich rückständige Vorurteile oft am Längsten.
MW war 1976 mit seiner Thriller-Ästhetik auf der Höhe der Zeit und strahlt immer noch in verblüffender Schönheit. Die Paarung von klarer Linie mit dynamischen Layouts zeigt unverkennbar die Handschrift Tezukas, schon die ersten Seiten erzeugen einen unwiederstehlichen Sog. Von erzählerischer Seite her sorgt die moralische Ambiguität der Geschichte für Irritation, was den präzisen und durchdachten Plot um eine weitere Ebene bereichert. Dann und wann scheint eine Ahnung durch, dass das Leben an sich nur ein entsetzlicher Irrtum sein kann, zuletzt gelingt dann aber doch die finale Kehrtwende. Das Leben ist selbst in dieser monströsen Erzählung zu wertvoll, als dass man es wahnsinnigen Nihilisten preisgeben sollte.
Mit Walt Disney sollte man den Osamu Tezuka der 1970er Jahre besser nicht vergleichen.
Carlsen, 2022
Text und Zeichnungen: Osamu Tezuka
Übersetzung: John Schmitt-Weigand
584 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 28 Euro
ISBN: 978-3551779106
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