Dass die Welt im Jahr 1980 eine gänzlich andere war als die jetzige, wird einem schnell bewusst, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Abstand zum Kriegsjahr 1940 ebenso weit entfernt davon ist wie der Abstand zum aktuellen Jahr 2020. Ich erinnere mich daran, wie ich 1980 als kleiner Siebenjähriger im Schwabacher Supermarkt fasziniert die Super-8-Box des Films Nackt unter Kannibalen betrachtete und mir im Kopfkino ausmalte, was man in dem Film wohl so sehen könnte. Die Welt der Erwachsenen kam mir damals unheimlich vor. (Bekannt ist Nackt unter Kannibalen auch unter dem Titel Black Emanuelle. Regisseur ist der berüchtigte Joe D‘Amato).
Was Kannibalen sind, wusste ich zu dem Zeitpunkt natürlich längst aus den Comics – meine Eltern kauften mir in genau diesem Supermarkt bei den familiären Enkaufstouren stets ein paar Comics. Dort waren sie besonders billig, denn es waren Restexemplare von Billigheften, die in Sammeltüten abverkauft wurden, darunter so seltsame Sachen wie Autokatz und Motormaus, Sindbad (nicht die schönen Hefte zur Anime-Serie sondern der billige Abklatsch) und – besonders beeindruckend – Willi Kohlhoffs Robinson. Bei diesen Robinson-Heften handelte es sich um 70er-Jahre Reprints der Originalhefte von 1954 und wenn ich sie heute ansehe, dann verstehe ich, dass Eltern und Pädagogen damals Angst hatten, Comics könnten verrohend wirken. Die ersten Robinson-Hefte sind tatsächlich sehr brutal. Mit ihnen habe ich lesen gelernt. (Meine Mutter hat sich geweigert, daraus vorzulesen.)
Die Nummer 1 hatte ich nicht. Ich ließ mich gleich in die Nummer 2 fallen, ein derbes Urwaldabenteuer, in dem Robinson es mit afrikanischen Ureinwohnern zu tun bekommt und in wüste Kämpfe zwischen zwei verfeindete Stämme gerät. Die Mischung zwischen burlesk, lustig und brutal ist heute wohl nur noch schwer vermittelbar und die Darstellung der Afrikaner als wilde Kannibalen sehr fragwürdig. Ebenso kritisch sind aber auch die zahlreichen Grausamkeiten zu sehen, die Kohlhoff uns in straffer Form vorsetzt. Mal soll Robinson in einer Grube mit Leoparden den Tod finden, dann von zwei Bäumen auseinandergerissen werden. Vor allem die Szenen mit Tieren sind von ungefilterter Grausamkeit: Da erhält ein Leopard, der zuvor einen Buschmann gerissen hat, in großer Nahaufnahme einen Speer in den Kopf, an anderer Stelle wird einem Krokodil mit Säbelhieb der Oberkiefer gespalten. Und dennoch muss man anerkennend sagen, dass ich keinen Comic kenne, der eine derartig fiebrige „Grüne Hölle“ abbildet.
Nicht weniger brutal geraten ist dann die Folgeepisode: Gerade erst aus höchster Seenot gerettet, muss Robinson an Bord des Schiffs, das ihn aufgenommen hat, sogleich eine Meuterei niederschlagen. Trotz großer Textlastigkeit beweist sich der Künstler Willi Kohlhoff hier als talentierter Erzähler in Bildern, der Bildfolgen mit gutem Timing hinbekommt und mühelos zwischen lustigen Szenen und ebenso lustvoll präsentierten Grausamkeiten wechseln kann. Höhepunkt des Geschehens ist, dass Robinson eine Kanone aus nächster Nähe in einen unkoordinierten Mob von Meuterern abschießt.
Kohlhoff war zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Geschichten fast 50 Jahre alt und hatte – obwohl er schon in den 1930er Jahren den Wunsch hegte, Abenteuercomics zu zeichnen – während des Kriegs bei der Kriminalpolizei gearbeitet. Er war also durchaus durch grausame Zeiten und Ansichten geprägt, was nicht als Unterstellung gelesen werden sollte, eher als eine Erklärung dafür, woher die doch etwas verrohte Erzählweise herkommen könnte. Die Meuterei-Geschichte löst er dabei auf eine Art und Weise auf, die man durchaus als Parabel auf die Entnazifizierung sehen kann: Alle Meuterer werden schnell wieder in die Gesellschaft rehabilitiert, weil der edle Robinson anerkennt, dass die Meuterer nur verhetzt worden waren und Angst vor dem Terror ihrer Anführer hattten.
Abgesehen davon, dass Kohlhoff die afrikanischen Ureinwohner stets als primitive Kannibalen darstellt, stört mich als heutigen Leser die überzogene Darstellung von Robinson als stets strahlenden, geschmeidigen, knallharten, überlegenen Supermann, der alles kann. Das ist so gänzlich ohne Ironie – etwas, was beispiesweise Harold Foster bei seinem Prinz Eisenherz schon viel früher durchaus konnte – nur schwer zu ertragen. Dem entgegen überzeugt dann aber durchaus, dass Robinson, wenn schon ein Supermann, dann eben doch ein Mensch ist und dass seine Kopfnüsse ganz offensichtlich weh tun. Ganz im Gegensatz zu den Kinnhaken, die der Kryptonier austeilt: Die lassen mich als Leser gänzlich unberührt.
In Sachen grüne Hölle und Drastik gibt’s in den Folgeheften dann wieder ordentlich Zucker: In Heft 5, „Abenteuer in Brasilien“, gerät Robinson in eine Höhle mit riesigen Vogelspinnen, eine Szene, die für mich bis heute als Referenz für Tierhorror funktioniert, auch wenn diesen faszinierenden Tieren, wie so oft, nur Unrecht getan wird. Aber mögen die Spinnen auch visuell beeindruckend sein, in Sachen Grausamkeiten tun sich eher die Nummern 6 und 7 hervor. In Nummer 6, „Höllisches Paradies“, gibt es eine Szene, die zwar nicht die Handlung voranbringt, aber doch die Grausamkeit der Natur trefflich darstellt: Ein Leopard verletzt einen Affen mit einem Tatzenhieb am Schwanz, woraufhin dieser blutend ins Wasser fällt. Dem Affen gelingt es noch, sich an einer Liane nach oben zu hangeln, aber da wird er schon von Piranhas bei lebendigem Leib aufgefressen. Lebendig gefressen wird im gleichen Heft auch ein Schurke, der von seinem Kumpanen aus Geldgier niedergeschlagen und den Wanderameisen dem Fraß überlassen wird: „Robinson steigert sein Tempo, als er […] das Schreien des inzwischen zu sich gekommenen Tejo hört. Aber er kommt zu spät, um den grässlichen Tod des Mestizen noch verhindern zu können.“
Auch Feuerameisen bekommen wir in „Höllisches Paradies“ zu sehen, und zwar in Form einer schwimmenden Kugel auf dem großen Amazonas. Es ist ein faszinierendes Phänomen, dass Ameisen sich im Wasser zu schwimmenden Inseln zusammenballen, aber Kohlhoff kommentiert dieses Verhalten auf besondere Art und Weise. Er schreibt: „Wochenlang treiben mitunter diese lebenden Kugeln auf dem Wasser. In der Mitte des Haufens befindet sich die Königin mit ihrer Brut. Hunderte von abgebissenen Gliedmaßen treiben hinter den Kugeln her und zeugen von den kannibalistischen Gelüsten dieser Ameisen. Wer kann ermessen, welche Qualen und Schmerzen die Kreaturen leiden für die Erhaltung ihrer Art.“ Natürlich fällt es hier nicht schwer, erneut eine Analogie zu den zurückliegenden Kriegsjahren und den Entbehrungen, Opfern und Gräueln zu ziehen, aber vielleicht sollte man mit solchen Schlussfolgerungen vorsichtig sein. 2012 nämlich hat Scott Snyder in seinem Swamp-Thing-Run eine ähnlich latent sadistische Analogie zwischen Natur und Grausamkeit gezogen. Bereits im ersten Heft klärt Alec Holland keinen geringeren als Superman über die Grausamkeit von Pflanzen auf: „Der Knöterich? Während wir hier plaudern, würgt er diesen Brombeerstrauch zu Tode. Und hier erwürgt der bittersüße Efeu den Schößling einer Pappel, das Kind der Pappel, in nächster Nähe. Die Pflanzenwelt ist der gewalttätigste Sektor der ganzen Biosphäre – nur dass die Gewalt in einer nicht wahrnehmbaren Langsamkeit voranschreitet.“ Da werden der Natur schon alleine deswegen menschliche Attribute zugesprochen, weil sich damit lustvoll im Naturhorror schwelgen lässt.
Robinson-Heft Nummer 8, in dem Robinson zuerst gegen lebende Mumien und dann gegen übermenschliche Tiermenschen kämpft, ist mir als Kind erspart geblieben, da das Heft 1954 indiziert wurde und auch im Nachdruck damals noch nicht rehabilitiert war. Die Episode mit den schrecklichen Raubtiermenschen ist wohl aus dem gleichen Grund auf dem Index gelandet wie über 25 Jahre später George A. Romeros Dawn of the Dead oder Sam Raimis Evil Dead: Jugendschützern ist es einfach ein Dorn im Auge, wenn Gewalt gegen humanoide Wesen dadurch legitimiert ist, dass sie durch einen fadenscheinigen erzählerischen Trick entmenschlicht werden. Zu reißenden Bestien abgerichtete „Raubtiermenschen“ hat man übrigens erst vor drei Jahren wieder angefunden, in Jason Aarons The Goddamned. Willi Kohlhoff war nicht weniger zurückhaltend als Aaron, was explizite Darstellungen angeht, und seine Geschichten stehen in Wildheit auch den EC-Horror- und Crime-Comics aus den USA in nichts nach, die Serien, die in den USA den Jugendschutz auf den Plan brachte.
Während die komplette Auflösung der Geschichte, die in einem Inka-Tempel spielt, den Leser*innen der Reprints von 1977 vorenthalten blieb, konnte man den Auftakt dieser Story schon lesen. Ich fand gerade diese Geschichte mit ihren turbulenten Verfolgungsjagden und den Streichen, die Robinsons Sidekick Xury den Indianern spielt, immer besonders lustig, doch gibt es in diesem Heft auch die Szene, die 1954 den Jugendschutz ganz besonders auf die Barrikaden trieb: die schematische Darstellung einer Folteranlage mit technischer Zeichnung und Erklärungen. Dazu meinte ein besorgter Erwachsener: „Hier wird der technische Nachahmungstrieb, der in jedem echten Jungen steckt, dazu angeregt, sadistische Möglichkeiten selbst auszuprobieren“ (vgl. Sackmann, Maiwald: Esperanto für Analphabeten. Deutsche Comicforschung 2007).
Ich bin nach wie vor fasziniert, dass die erste einschlägige Leseerfahrung, die ich hatte, der „Schmutz- und Schund“ war, auf den hin die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften gegründet wurde. So mag ich auch nicht an einen Zufall glauben, dass ich bereits als Siebtklässler erste Sekundärliteratur zum Thema Zensur gesammelt und mich bis heute mit diesem Thema auseinandersetze. Irgendwie musste mich schon damals das Gefühl beschlichen haben, dass so grausige Dinge keine Kinderliteratur sein sollten, und doch war ich davon so fasziniert, dass es mich nie mehr losgelassen hat.
Mit der Robinson-Geschichte, die nach dem Inka-Tempel und seinen Tier- und Mumienmenschen kam, schaltete Kohlhoff in Sachen Turbulenz und Grausamkeit einen Gang zurück. Ab Robinson-Heft 9 folgte die Adaption der klassischen Defoe-Geschichte um Robinson, der Jahre auf einer einsamen Insel lebt und dort dem Kannibalen Freitag das Leben rettet. Auch wenn es sich um eine rudimentäre Adaption handelt, und auch wenn Robinson auf seiner Robinson-Insel nur drei und keine 28 Jahre verbringt, so ist es doch eine gelungene Herangehensweise, die zudem einen deutlich entschleunigten Ton anschlägt. Aber auch hier gibt es noch die eine oder andere Gewaltspitze, vor allem, wenn Robinsons Wolfshund Lupus, den er in diesem Zyklus hat, mehrere Menschen zerfleischt. Zudem etabliert Kohlhoff mit dem Piraten „Der Schwarze Pierre“ wirklich einen fiesen Bösewicht. Gerade die letzte Prügelei zwischen Robinson und Pierre, die ich allerdings erst als Erwachsener zu lesen bekam, da diese Episode von Arotal 1977 nicht mehr gedruckt wurde, ist episch und zieht sich über mehr als ein Heft hin. Da sind die Prügel noch einmal ein letztes Mal so richtig schmerzhaft. Als dann wenige Hefte später Helmut Nickel die Reihe übernahm, da hatte schon die Freiwillige Selbstkontrolle für Serienbilder ihr waches Auge darauf, dass die Ausschweifungen der ersten Hefte nicht noch einmal passieren würden. Gleichzeitig hatte gerade Nickel aber wohl ohnehin einen seriöseren Ansatz. Der spätere Kurator des Metropolitan Museums in Florida legte vor allem Wert darauf, sein Interesse für Völkerkunde in die Comics einzuarbeiten und hatte an allzu reißerischen Geschichten eher kein Interesse.
Nachdem Willi Kohlhoff die Serie nach dem 19. Heft verließ, nahm er seine Arbeit bei der Kripo wieder auf und arbeitete von nun an als Tatort-Zeichner. Eigentlich schade, denn als grafischer Erzähler war er ein enormes Talent. Aber offensichtlich zeichnete sich schon in den 1950er Jahren ab, dass pädagogisch wertvolles Material, wie Nickel es die meiste Zeit anfertigte, eher Anerkennung finden konnte als der hemmungslose Pulp eines Kohlhoff. Daran hat sich seither nicht mehr viel geändert.
Weiterführende Literatur:
Christian Maiwald und Eckart Sackmann: „Esperanto für Analphabeten – die Einführung eines Kritikschemas“, in: Deutsche Comicforschung 2007. Verlag Comicplus, Hildesheim, 2006.
Eckart Sackmann und Detlef Lorenz: „Willi Kohlhoff: ‚Meisterdetektiv Archibald Schnüffel'“, in: Deutsche Comicforschung 2020. Verlag Comicplus, Leipzig, 2019.
Detlef Lorenz: Das Logbuch des Robinson Crusoe. Verlag Edition Alfons, Barmstedt, 2015.
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