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Beobachtungen aus der letzten Reihe

Neil Gaimans Beobachtungen aus der letzten Reihe. Alternativtitel: Meine gesammelte Vorwort- und Vortragsprosa auf 570 Seiten. Oder: Einkaufen mit Pathos: Eine Shopping-Liste mit Nebensätzen.

Gaiman, Neil: einstiger Star der Comicwelt („British Invasion“, vgl. Alan Moore, Grant Morrison) und Autor der legendären Sandman-Reihe (1988-96); seit Anfang der Nuller Jahre Rückzug aus der Comic-Szene, erfolgreicher Roman-Autor: Neverwhere (1996), American Gods (2001), The Graveyard Book (2008, Jugendbuch). 

© Eichborn Verlag

Wirft man einen Blick in die deutschen Verlagsprogramme, ist Neil Gaiman auch heute noch erstaunlich präsent: Splitter hat gerade Gaimans Roman American Gods, gezeichnet von Scott Hampton, in zwei Bänden herausgebracht. Gaimans Marvel 1602 wurde von Panini vor wenigen Monaten in einer Deluxe-Edition veröffentlicht. Und mit Niemalsland ist im Juni 2018 nun auch die deutsche Ausgabe der inzwischen etwas gealterten Comicadaption von Gaimans Roman (1996) erschienen. Neues aber wird man von Gaiman nicht erwarten können, hat er dem Comic doch den Rücken gekehrt, um sich anderen Projekten widmen zu können. Dann müssen wir also mit dem alten Zeug Vorlieb nehmen.

In Beobachtungen aus der letzten Reihe ist eine Sammlung von Gaimans Gelegenheitstexten veröffentlicht worden. Und das sind viele, denn der gelernte Journalist ist ein gefragter Vorwortautor, Festaktredner und Interviewpartner. So sind nun 570 Seiten zusammengekommen, in denen Gaiman sich über allerlei äußert: über Tori Amos (mit der er gut befreundet ist), Dave McKean (mit dem er gut befreundet ist) und über Douglas Adams (über dessen Hitchhiker’s Guide to the Galaxy Gaiman ein Buch geschrieben hat). In einem Kapitel  sind Gaimans Texte über Comics abgedruckt, die zwischen 1990 und 2010 entstanden sind.

Wir erfahren, dass er Jack Kirby niemals begegnet ist (obwohl er in einer Hotellobby beinahe die Chance dazu hatte) oder dass er als 14-Jähriger überfallen wurde, während er auf dem Weg zu einem Comicladen war, um sich seine erste Ausgabe von Will Eisners Spirit zu kaufen. Vor allem, das ist natürlich die Poetik von Vorwörtern und Lobreden, lernen wir, wessen Werke Gaiman zu schätzen weiß (in Auswahl!):

  • Eddie Campbell: „der unbesungene König der Comics“
  • Jeff Smith: „ein wahrer Meister“
  • Jack Kirby: „Kirbys Fantasie war grenzenlos und unnachahmlich. Seine Arbeit war prachtvoll und gewaltig.“ oder auch: „der dynamischste, innovativste und kreativste Comickünstler des 20. Jahrhunderts“
  • Will Eisner: „ein Lehrer und Wegbereiter“
  • Harvey Kurtzman: „ein Genie“
  • etc.

Es ist eine banale Einsicht, dass anlassgebundene Texte für einen bestimmten Anlass geschrieben sind. Sie sind geschrieben worden, in einer ganz speziellen Zeit und Umgebung gehört und gelesen zu werden, und deshalb altern solche Texte meist ausgesprochen schlecht, sofern sie nicht Spektakuläres, Visionäres oder Ungeheures zu sagen haben. Ein exzellentes Vorwort kann also ein miserabler Beitrag in einem 20 Jahre später erscheinenden Buch sein. So ist es leider den meisten der kurzen Texte Gaimans ergangen. Viele Anspielungen sind kaum mehr verständlich und bräuchten einen erläuternden Textapparat, der allerdings fehlt (ebenso wie ein Namensregister: shame on you, Eichborn!). Lesenswert bleiben aber etwa die Texte über Jeff Smiths Bone, den Gaiman 1995 und 2008 kommentiert hat und seiner alten Einschätzung doch einiges hinzuzufügen hat.

Aber die Sammlung ist nicht ganz unbrauchbar, überhaupt nicht. Gaimans Geschmack ist nämlich völlig vertrauenswürdig, und so kann man fleißig mitschreiben, was er empfiehlt: Chris Ware, Jeff Smith, Will Eisner, Art Spiegelman, Alan Moore etc. Letzterer, der Schöpfer von Watchmen, spielt überraschenderweise fast gar keine Rolle in der veröffentlichten Auswahl. Leider.

Kurzum: Wer seine Einkaufslisten gern umfassend formuliert (570 Seiten) und diese pathetisch kommentiert, wird voll auf seine Kosten kommen. Die meisten anderen sind besser bedient, die Comic-Klassiker in die Hand zu nehmen, für die Neil Gaiman in der Szene so sehr geschätzt wird: The Sandman oder Black Orchid.

Als Einkaufsliste passabel

Beobachtungen aus der letzten Reihe. Über die Kunst, das Erzählen und wieso wir Geschichten brauchen5von10
Eichborn, 2017
Autor: Neil Gaiman
Übersetzung: Rainer Schumacher und Ruggero Leò
570 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 24,00 Euro
ISBN: 978-3-8479-0035-1
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