In der Kolumne „Währenddessen …“ zeigt die Comicgate-Redaktion, was sie sich diese Woche so zu Gemüte geführt hat.
Christian: Bei der Vertigo-Serie Scalped erkennt man auf jeder Seite die Sorgfalt, mit der Autor Jason Aaron den Plot und die Figuren ausgearbeitet hat. Aaron muss von Anfang an ziemlich genau gewusst haben, worauf er am Ende hinauswollte. Die Erzählung springt oft in der Zeit vor und zurück, was den Figuren quasi im Zeitraffer ein vielschichtiges Profil verleiht. Dennoch kann man der Story zu jeder Zeit gut folgen, was bei der Komplexität der Handlung vor allem Aarons Souveränität zeigt. Auch die Abstimmung mit den Zeichnern funktioniert perfekt. Scalped ist das Produkt einer perfekt aufeinander abgestimmten Band, bei der kein Mitglied mal schnell durch jemand anderes ersetzt werden könnte. Überhaupt ist es erfreulich, dass dieser Stoff ein Comic geworden ist. Ähnliche Erzählungen findet man ja heutzutage eher im modernen TV.
Jason Aaron hat nie verleugnet, dass seine Figuren realen wie fiktiven Vorbildern entsprechen. Ein sehr offensichtlicher Einfluss waren zum Beispiel die Songtexte von Bruce Springsteen. Die Figur des Dino Poor Bear, eines jungen Indianers im Reservat, ist da nicht das einzige, aber meiner Meinung nach das deutlichste Beispiel. Zunächst schimmert Springsteens The Promised Land durch, in Heft 9, wenn man Dino an seinen Autos schrauben sieht (Working all day in my daddy’s garage, driving all night chasing some mirage). Ein weiterer definierender Moment lässt ihn auf einem Hügel stehen und davon träumen, alles hinter sich zu lassen, ganz so, wie es auch im Song Darkness on the Edge of Town lautet: „Tonight I’ll be on that hill, cause I can’t stop …“. Überhaupt Darkness on the Edge of Town. Dieses Lied gibt das Leitmotiv gleich mehrerer Figuren vor:
„Everybody’s got a secret, Sonny,
Something that they just can’t face,
Some folks spend their whole lives trying to keep it,
They carry it with them every step that they take.
Till some day they just cut it loose
Cut it loose or let it drag ‚em down,
Where no one asks any questions,
or looks too long in your face,
In the darkness on the edge of town.“
Eine besonders deutliche Andeutung auf Darkness on the Edge of Town findet sich in Heft 23, als Dino Poor Bear nach einem weiteren beschissenen Tag im Reservat mal wieder in Selbstmitleid verfällt und folgenden inneren Monolg führt:
„Some folks get to be astronauts.
And then some folks get the kinda luck that sucks dick.
They get born with the deck stacked against them
And can’t never seem to catch no breaks.“
Das ist schon allein von Rhythmus und Versmaß her unheimlich nah an der letzten Strophe von Darkness. Bruce Springsteen singt da:
„Some folks are born into a good life,
Other folks get it anyway, anyhow,
Me, I lost my money and I lost my wife,
Them things don’t seem to matter much to me now.“
Jason Aaron hat Bruce Springsteens Stimmungsbilder zu perfekter Rollenprosa weiterentwickelt, zu deren Intensität mir beinahe keine Ebenbilder einfallen. Vielleicht Spike Lees Film 25 Stunden, der ähnlich umfassend und vielschichtig in der Charakterisierung ist und seine Figuren Texte aufsagen lässt, die lange nachhallen und die man sich wie ein gutes Musikstück immer wieder neu anhören kann, ohne dass es je zu viel wird. (Die Vorlage von 25 Stunden stammt übrigens von David Benioff, der insbesondere den Fans von Game of Thrones ein Begriff sein dürfte.)
Scalped ist seit langer Zeit wieder eine Serie, bei der ich gierig weiterlese und sofort nach Ende des vorherigen Heftes noch ein Heft lese und noch eins. Selten hat Binge-Reading so viel Freude gemacht. Und wer’s nicht glaubt: Hier kann man Aarons grenzenlose Bewunderung für den Boss in seinen eigenen Worten nachlesen: http://jasoneaaron.blogspot.de/2008/08/last-night-i-went-down-to-river.html?spref=fb
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