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Baikonur mon amie

Wer von Sonja Knoll und Michael Rühl bisher noch nie gehört oder gelesen hat, ist beileibe nicht allein, denn mit Baikonur mon amie legen die beiden Ihren Erstling vor. Und damit fallen sie an vielen Stellen über die bekannten Stolperdrähte, die vor allem für diejenigen gespannt sind, die sich nicht vorher an kleinen Geschichten probiert haben. Doch dieser Erstling ist auch ein eindrucksvolles Debüt, das durch Authentizität und Esprit überrascht.

Alle Abbildungen: © Sonja Knoll & Michael Rühl

Alle Abbildungen: © Sonja Knoll & Michael Rühl

Erzählt wird die Geschichte der drei Freunde Basti, Katrin und Hannes sowie ihrer jeweiligen Familien, die in der niedergehenden DDR leben. Sie besuchen die Schule in der vierten Klasse, sind Jungpioniere und verfolgen das Ziel, Kosmonauten zu werden. In ihrem jugendlichen Leichtsinn begehen sie aber einen Fehler, indem sie sich unwissentlich mit dem System überwerfen, wodurch der Berufswunsch zu zerplatzen droht.

Überraschend ist die Präsentation der Geschichte: Es wechseln sich gemalte Comic-Panels, in denen Captions und Sprechblasen für den Transport der Texte verwendet werden, mit mal kurzen und mal langen Prosapassagen ab. Das ist erst mal ungewohnt, die sich dadurch bietenden Möglichkeiten zur Einsicht in die Gedankenwelt der erzählenden Person werden aber von Michael Rühl, der die Texte schreibt, sehr gut genutzt. Doch dazu später mehr.

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Rein formal gibt es an Baikonur mon amie sehr viel zu bemängeln. Man merkt, dass die beiden Schöpfer vorrangig im Sinn hatten, ihre Geschichte zu veröffentlichen. In die Gestaltung wurde beim ganzen Buch nicht sonderlich viel Liebe gesteckt: Die Titelabbildungen sind nichtssagend, auf den Innenseiten sind die Bilder und Texte zwar in einem gewissen Raster, aber darin eher lieblos zusammengestellt und auf der Rückseite findet im Grunde gar kein Design mehr statt. Dazu gesellen sich Details, die im kleinen Graphic-Novel-Einmaleinsmal unter „Bitte so nicht machen“ schon relativ weit oben stehen: „ß“ im Versalsatz, Sprechblasen, die Panelrahmen tangieren, teilweise sehr merkwürdige Umbrüche in den Blasen … alles Dinge, die Comicautoren gelernt haben zu vermeiden, wenn sie vorher schon mal kürzere Geschichten erzählt haben. Zu guter Letzt hat auch das im Impressum extra aufgeführte Lektorat nur bedingt gute Arbeit geleistet, denn wer gerne doppelte Leerzeichen oder sonstige Schreibfehler sucht, der wird an dem Buch seine helle Freude haben.

Die Reproduktion der Bilder ist ebenfalls etwas lieblos ausgefallen. Bei vielen Panels fehlt der Kontrast, nicht selten würde der Einsatz von ordentlichem Schwarz oder zumindest dunklen Farben mehr Tiefe in die Bebilderung bringen. Das ist deshalb besonders schade, weil die Malereien von Sonja Knoll zum Teil wirklich schön sind. Gerade bei ganzseitigen Illustrationen, wenn zum Beispiel ein Wohnblock mit darüber ziehenden Vogelschwärmen oder abgelegene und heruntergekommene Seitenstraßen bei Nacht gezeigt werden, zeigt sie viel Gefühl für Farben und Details. Leider sind aber auch viele Hintergründe nur sehr schemenhaft und wirken, als wären sie aus der Erinnerung gezeichnet, mit dem Ergebnis, dass Häuser nur wie Platzhalter aussehen und nicht wie echte Häuser. Da wurde an vielen Stellen Potenzial verschenkt, das Setting echter wirken zu lassen. Bei den Darstellungen der Menschen kann man anatomische Mängel monieren, aber hier wird viel von einer erfrischenden Lebhaftigkeit der Bewegungen wettgemacht. Wenn Kinder die Treppe herunterlaufen, springen sie im Treppenhaus herum. Die Körpersprache aller handelnden Figuren ist authentisch und lässt sie sich natürlich durch die Geschichte bewegen. Das macht Spaß.

Die Geschichte von Michael Rühl und die Figurenzeichnung sind die wahre Stärke des Buches. Man bekommt vom Start weg ein sehr eindrucksvolles Gefühl für das Leben in den letzten Monaten der DDR. Der Autor schafft es scheinbar spielerisch, immer wieder die deutlichen Unterschiede von damals zu heute herauszuarbeiten: die Mangelwirtschaft, die ständige Überwachung und Angst vor der Stasi, die Kontrolle des Staates in scheinbar allen Bereichen des Lebens, heruntergekommene Häuser auf der einen und superschnell gebaute Plattenbauten auf der anderen Seite, die sozialistische Gesellschaft und die Gegenbewegung … nichts davon kommt mit dem Holzhammer, sondern wird über die gut durchdachten Figuren transportiert. Dazu kommt, dass Rühl Dinge nie einfach passieren, sondern jede Handlung von seinen Protagonisten ausgehen lässt. Die Menschen handeln, um die Geschichte voranzutreiben, und stehen dadurch im Mittelpunkt des Geschehens, wodurch es dem Leser leicht gemacht wird, mitzufühlen. Und mit Gefühlen spart Michael Rühl nicht: frühpubertäre Romantik, ausgelassene Freude, paranoide Angst … aufbrausende Geschwister, hassenswerte Systemfanatiker, lieblose Eltern … Baikonur mon amie zeigt eine große Bandbreite zwischenmenschlicher Emotionen und erweckt diese auch beim Leser. Hier nutzt Rühl sehr gekonnt die Prosaform und überzeugt mit einer sympathischen, authentischen Erzählstimme.

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Schade ist – aber auch das ist wieder ein Punkt, der deutlich macht, dass es sich hierbei um einen Erstling ohne Vorerfahrung der Macher handelt – dass bestimmte Elemente in der Geschichte sehr unbeholfen daherkommen. Ich hätte mir beispielsweise gewünscht, das titelgebende „Baikonur“ etwas besser erklärt zu bekommen. So musste ich mir aus verschiedenen Stellen des Buches zusammenreimen, worum es sich hier handelt. Dazu muss sich der Leser erst erarbeiten, wer die Erzählerin der Geschichte ist.

Auch gibt es verschiedene Figuren in dem Comic, bei denen es sich gelohnt hätte, sie ordentlich als Antagonisten aufzubauen. Die Lehrerin Frau Rompe zum Beispiel wird, bis zu dem Zwischenfall, der die Zukunft der Kinder bedroht, überhaupt nicht erwähnt oder gezeigt. Sie ist plötzlich da, danach aber das maßgebliche Gesicht des Systems und damit DER Gegner der Kinder. Auch der Mitschüler Eric, direkt zum Anfang als Gegner der kleinen Clique erklärt, findet in der ganzen Geschichte kaum statt, weint aber am Ende bitterlich. Mitfühlen kann man als Leser dann aber nicht, weil man den Ausbruch nicht versteht.

Unterm Strich bekommt man mit Baikonur mon amie eine durchaus lesenswerte Erzählung aus den letzten Tagen der DDR. Sonja Knoll und Michael Rühl haben hier ein ambitioniertes Projekt, an dessen Fortsetzung bereits gearbeitet wird. Viele Ansätze in der Geschichte sind spannend und machen Lust auf mehr. Nur muss zwingend an der Darbietung und Produktion der Bücher gearbeitet werden, denn der erste Eindruck ist stark verbesserungswürdig und könnte dazu verleiten, dass viele potentielle Leser keine Lust haben, sich auf die vielversprechende Geschichte und die schöne Bebilderung einzulassen.

Starke Momente und Bilder werden leider durch die sehr amateurhafte Präsentation getrübt

Baikonur mon amie
Dipol-Verlag, 2016
Text: Michael Rühl
Zeichnungen: Sonja Knoll
136 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 24,- Euro
ISBN: 978-3981734904
ISBN: 978-3981734904
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