Das Hemd so weit geöffnet wie sonst nur Richard David Precht, dabei so lässig wie Jean-Paul Belmondo und so gefährlich wie Dirty Harry: Zaroff vereint sehr unterschiedliche Qualitäten, und dies macht den Comic fast so fancy wie einen Türklopfer.
Auf einer Insel, irgendwo vor der Küste Venezuelas, lebt General Zaroff (Attribute: reich, russisch, spleenig) mit zahlreichen Hausangestellten und einigen Leoparden, sichtbar gelangweilt vom Leben und kurz davor, nach Russland heimzukehren, um Stalin, diese „jämmerliche Figur“, von der politischen Bühne zu jagen. Das würde auch eine spannende Geschichte abgeben, aber leider kommt es anders, Zaroffs Vergangenheit holt ihn plötzlich ein: Dieser hatte nämlich in Ausübung seines makabren Hobbys (Menschenjagd) einen Bostoner Gangster namens Stuart Flanagan ermordet, dessen Tochter Fiona nun auf Rache sinnt.
Fiona hat Zaroffs Schwester und deren Kinder in New York ausfindig gemacht und auf Zaroffs Insel verschleppt. Dort sollen nun drei Parteien um ihr Überleben kämpfen: Zaroff und dessen Diener, Zaroffs Schwester mit ihren Kindern und Fiona selbst (unterstützt von der irischen Ganovenelite Bostons). Eine Menschenjagd unter veränderten Vorzeichen, denn der russische Bösewicht Zaroff steigt hier zum russischen Menschenretter Zaroff auf.
Die Handlung geht auf die Kurzgeschichte The Most Dangerous Game (1924) des amerikanischen Unterhaltungs- und Drehbuchautors Richard Connell zurück. Die Idee einer Menschenjagd wurde seither oft in Film und Buch durchexerziert, so etwa in den frühen filmischen Adaptionen der Kurzgeschichte in The Most Dangerous Game (1932), A Game of Death (1945) oder Run for the Sun (1956). Wer actionlastigem Trash der 1990er etwas abgewinnen kann, findet in Surviving the Game (1994) mit Ice-T als Beute eine aktuellere Variante.
Zaroff ist aber keine bloße Adaption, sondern eine Fortsetzung der Literatur- bzw. Filmhandlung, so wie etwa Michael Mikolajczak und Jacek Piotrowski es 2019 mit E.T.A. Hoffmanns Sandmann gut gelungen ist.
Interessant ist, dass die Rückblende, in der wir die Vorgeschichte erfahren, zugleich an den Schwarzweißfilm von 1932 sowie dessen literarische Vorlage anknüpft, denn die Handlung von Film und Kurzgeschichte weichen in vielen Details voneinander ab. Die Namensgebung, General Zaroff, deutet auf die literarische Vorlage hin, denn der Film machte aus dem General einen Grafen. Viele Details der Rückblende im Comic verweisen eindeutig auf die Kurzgeschichte, manche Bilder (s.u.) wiederum sind der Filmadaption verpflichtet.
Zaroff, der Jäger im Morgenmantel, fordert einiges vom Leser: Zeichnet Connell in seiner Kurzgeschichte mit Zaroff das Bild eines Soziopathen, übernimmt Fiona Flanagan nun diese Rolle, wenn auch nicht (nur) aus purer Freude, sondern aus Rache. Wir fühlen mit dem russischen Jäger, der im Morgenmantel durch den Urwald springt und den zugleich seine wiedererwachte Lust am Jagen und die Verantwortung gegenüber seiner Schwester antreiben. Der Charakter der Figur hat sich also ein ganzes Stück vom Original entfernt.
So ist es ganz konsequent, dass wir am Ende aus dem Mund seiner Schwester Zaroffs Vornamen erfahren, während Buch und Film die Distanz von Leser*in bzw. Zuschauer*in zu Zaroff aufrecht erhalten. Am Ende sind wir auf Du und Du mit dem General bzw. mit Nikolai.
Der Film von Ernest B. Schoedsack und Irving Pichel erweitert die sehr kurze Vorlage um zahlreiche Figuren und Dialoge, offenbar auch mit dem Ziel, der Actionhandlung eine zivilisationskritische Grundierung zu verpassen: „Tiefschürfende philosophische Gedanken: Ich dachte an die Widersprüche, in die die Zivilisation uns verwickelt. Die Bestie des Dschungels tötet nur, um zu überleben, und wir bezeichnen sie als wild. Und der Mensch, der zum Zeitvertrieb tötet, ist für uns zivilisiert. Das ist doch widersprüchlich.“ Sicher ist es widersprüchlich, „tiefschürfend“ ist nun aber doch etwas hoch gegriffen. Runberg möchte seinem Zaroff bzw. Nikolai auch etwas von diesem Esprit abgeben und lässt ihn, wie schon Autor und Regissuer zuvor, von Zeit zu Zeit Marc Aurel zitieren: „Führe jede Tat so aus, als wäre sie die letzte deines Lebens.“
By the way: Der Film von 1932 ist allein deshalb sehenswert, weil er in der Eingangsequenz einen Türklopfer zeigt, der in die „Geschichte der fancy Türklopfer“ eingehen müsste, wenn diese einmal geschrieben werden wird.
So vereint Zaroff leichtgängige Philosophie mit lässiger Eleganz und dem zweifelhaften Ethos eines selbstgerechten Jägers, der in Kauf nehmen muss, auch einmal zur Beute zu werden. Nimmt man seinen Aurel als Ratgeber, sollte man sich gut überlegen, ob Zaroff als ‚letzte Lektüre des Lebens‘ ratsam sei – für alle anderen Tage ist sie auf jeden Fall bestens geeignet.
Precht, Dirty Harry & Oscar Wilde
Splitter Verlag, 2020
Text: Sylvain Runberg
Zeichnungen: Francois Miville-Deschênes
Übersetzung: Harald Sachse
88 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 19,80 Euro
ISBN: 978-3-96219-492-5
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