Craig Thompsons Werk ist überschaubar, dennoch gilt er seit Blankets als ein Schwergewicht im Comic-Betrieb. Nun ist sein Tagebuch einer Reise neu aufgelegt worden.
Charles Hatfield bezeichnete Craig Thompson in The Comics Journal als einen Perlentaucher, der in ein Projekt für eine unwahrscheinlich lange Zeit eintauchen könne, so dass man fürchten müsse, er sei darin ertrunken. In diesem Moment aber tauche er wieder auf und halte etwas Glänzendes in der Hand. Blankets (2003) war sein erster Streich, der mit diversen Preisen überhäuft wurde, darunter mehrere Eisner Awards, wenngleich manche Kritiker wie etwa Tom Hart den Comic unglaublich langweilig fanden. Als 2011 Habibi, Thompsons nächstes Großprojekt erschien, schieden sich die Geister. Manche bewunderten die Komposition, andere störten sich an den klischeehaften Bildern vom Orient, den der amerikanische Zeichner und Autor natürlich nur durch seine spezifische Brille wahrnehmen könne. Das Tagebuch einer Reise hingegen ist wesentlich unverfänglicher.
Tagebücher haben den Charme, einen (vermeintlich) intimen Einblick in einen Lebensabschnitt geben zu können. Zugleich erleben die Leser*innen die Ereignisse nicht aus der Perspektive einer Rückschau, die alles im Nachhinein arrangiert, interpretiert und in eine erzählerische Form bringt (d.h. zu einer Tragödie oder Komödie etc. macht), sondern man nimmt (natürlich nicht ungefiltert) an der Lebensreise einer anderen Person teil, mit allen erzählerischen Redunanzen oder Sackgassen, die der Alltag so mit sich bringt.
Authentizität gewinnt die Darstellung durch Thompsons offenen Umgang mit dem Herstellungsprozess des Tagebuchs: „Dieser Reisebericht ist ohne die Zuhilfenahme von Kameras (oder Handys) entstanden.“ Es klingt zwar ironisch, aber der Verzicht auf fotografische Hilfsmittel macht die Darstellungen vielleicht weniger authentisch, verleiht dem Verfasser aber mehr Glaubwürdigkeit in dem, was er tut. Wir folgen Craig Thompson auf einer Signierreise für seinen französischen Lizenznehmer Casterman nach Europa – das Tagebuchs ist aber keineswegs ein Zufallsprodukt, sondern gehörte von Anfang an zu der Planung dazu.
Ein roter Faden ergibt sich durch den (manchmal etwas anstrengenden) Liebeskummer Thompsons, dessen Beziehung kurz zuvor beendet wurde. So kommt es, dass er in fast allen Frauen, denen er begegnet, zuerst die „hübschen“, die „sehr hübschen“ oder die „süßen“ Frauen sieht. So authentisch dies auch sein mag, es ist auch etwa so anstrengend wie jemanden zu begleiten, der seinen Herzschmerz fortwährend und ungefiltert mitteilt.
Ganz unvermittelt landet Thompson in Marrakesch, und dieser Teil nimmt einen großen Raum in Anspruch, bevor er wieder nach Frankreich zurückkehrt. Sehr eindringlich beschreibt er seine Gefühle als deplatzierter Tourist in dieser sehr umtriebigen Stadt. „Den Alltag in den Straßen zu zeichnen, ist wenig empfehlenswert. Ich nehme an, es ist verboten, Frauen zu zeichnen, Männer lehnen es ab, wenn man sie fragt; nur Kinder posieren bereitwillig – gegen Geld. Mit einer Digitalkamera wäre das Bildermachen um einiges unauffälliger. Stattdessen zeichne ich Kätzchen.“
Und Bäume. Katzen und Bäume ziehen immer wieder das Interesse Thompsons auf sich, aber auch weniger ansehnliche Erlebnisse wie seine Magenprobleme mit massivem Durchfall haben Eingang in das Tagebuch gefunden. Während die Marroko-Episode sich auf die fremde Architektur, die Alltagsgewohnheiten der Menschen, deren Kleidung und Ernährung konzentriert, sind die Frankreich-Szenen von Thompsons Liebeskummer (oder neuem Verliebtsein) geprägt.
Trotz des Reisemotivs, das eine Persönlichkeitsentwicklung des Protagonisten erwarten lässt, lässt die Geschichte eine Charakterentwicklung oder einen Lernprozess vermissen. Wir erhalten die Innenschau einer nicht fiktiven Figur (anders als in Blankets) und erfahren eine andere Kultur mit einem hohen Anspruch an Authentizität (anders als in Habibi). Die schwungvollen Schwarzweißzeichnungen Thompsons sind so charmant wie in seinen anderen Werken, wenngleich sie, den Entstehungsumständen geschuldet, viel skizzenhafter wirken.
Das Tagebuch entstand zwischen März und Mai 2004 und erschien noch im gleichen Jahr bei Drawn & Quarterly. 2005 wurde die deutsche Ausgabe bei Reprodukt veröffentlicht. Die aktuelle Neuausgabe ist um 32 Seiten erweitert.
Für Katzenversteher und Baumflüsterer
Reprodukt, 2021
Text und Zeichnungen: Craig Thompson
Übersetzung: Matthias Wieland
256 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3-95640-271-5
Leseprobe