Meisterdetektiv Sherlock Holmes hatte schon mannigfaltige Einsätze, die weit über jene von seinem Erfinder Sir Arthur Conan Doyle erdachten hinausführten. Bis in die Mitte der 1950er Jahre war fast die Hälfte der englischen Bevölkerung davon überzeugt, dass Sherlock Holmes wirklich gelebt hat, knapp 30 Prozent waren gar der Meinung, dass Holmes immer noch lebt. Bis vor einigen Jahren noch kamen Briefe und Postkarten in die Londoner Baker Street, um Holmes um Hilfe zu bitten. Und das, obwohl die Hausnummer 221B dort gar nicht existiert.
Dabei ist Holmes keine mythologische Gestalt. Er ist kein Superheld, kein Archetyp und auch keine männliche Wunschprojektion wie etwa James Bond. Vielleicht ist es gerade das Geheimnis seines Erfolges, dass der Meisterdetektiv auf dem Boden geblieben ist. Seine bemerkenswerte Beobachtungsgabe und Scharfsinn können manchmal übermenschlich wirken, aber diese Fähigkeiten sind durchaus trainierbar, und seine Schlussfolgerungen werden in Doyles Geschichten nachvollziehbar erklärt. Zudem ist der Detektiv ein Mann voller Schwächen. Gegenüber Frauen ist er gehemmt, er neigt zu Depressionen, ist drogenabhängig und im Grunde ein Misanthrop, der es leid ist, die Menschen zu durchschauen und oftmals von einer tiefen Langeweile gequält wird. All das macht ihn menschlicher und somit interessant für den Leser.
Es sind gerade diese Vielschichtigkeit und der charakterliche Realismus, welche die Figur universell einsetzbar machen, egal ob in obskuren Paarungen, etwa mit Batman, oder in Neuinterpretationen wie der sehr erfolgreichen BBC-Serie Sherlock. Der französische Comicautor Sylvain Cordurié schickte Holmes bereits in Konfrontationen mit Vampiren (Sherlock Holmes und die Vampire von London) und den Geschöpfen von H.P. Lovecraft (Sherlock Holmes und das Necronomicon), auch mit Dracula und Zombies hatte er es schon zu tun. In Corduriés neuem Comic, der wieder als Splitter-Double-Band erscheint, liest man aber eher eine Geschichte, die man im Superheldensegment als Origin-Story bezeichnet: Holmes hat bereits seine Fähigkeiten entwickelt, weiß aber nicht, was er mit ihnen anfangen soll. Im Zuge geheimnisvoller Entführungen in London wird auch ein Freund verschleppt und Holmes setzt erstmals seinen Verstand dazu ein, Verbrecher zu jagen – dabei trifft er auf die Familie der Moriartys.
Der übernatürliche Aspekt der letzten beiden Miniserien ist hier nur ansatzweise vorhanden. Eine Apparatur, deren Zweck hier nicht verraten werden soll, hat leichte Sci-Fi-Anklänge, passt aber durchaus in die viktorianische Tradition der Technikversessenheit; wohingegen der hier auftretende High Lord als Auftraggeber der Schurken aus den Vorgängercomics stammt. Beides Aspekte, die dem Puristen als Fremdkörper übel aufstoßen könnten, hier aber sehr dezent eingebaut sind. Cordurié liefert diesmal eher eine klassische Holmes-Geschichte mit Rätseln und Action. Der Titel Crime Alleys erinnert nicht zufällig an die Straße, in der die Eltern von Bruce Wayne ermordet worden sind. Auch das Cover des zweiten Teils lässt an typische Batman-Ausgaben denken, wenn der Held in seinem dunklen Umhang von einem Dach aus seine Stadt betrachtet und über sie wacht. Eine Origin-Story, in der Tat.
Neben den gelungenen Zeichnungen von Alessandro Nespolino, die eine wunderbar stimmige Atmosphäre entstehen lassen, überzeugt vor allem die charakterliche Entwicklung sowohl des Helden als auch seines Gegenspielers. Ein Manko ist dagegen der Wendepunkt der Story, der zu sehr in Richtung eines „deus ex machina“ geht und den Zufall regieren lässt. Ansonsten hat man es hier mit grundsolider, angenehmer Unterhaltung zu tun, die auch eingefleischten Holmes-Puristen gefallen dürfte.
Solide Origin-Story, welche die Charakterentwicklung des Meisterdetektivs in den Fokus rückt.
Splitter Verlag, 2015
Text: Sylvain Cordurié
Zeichnungen: Alessandro Nespolino
Übersetzung: Swantje Baumgart
96 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 19,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-133-8
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