Nachgereicht zum Thema „Mental Health“: Erforschung einer Angststörung. Für diesen bösen, bunten Backstein im Taschenbibelformat gab es in Erlangen den Max-und-Moritz-Preis für den besten deutschsprachigen Comic. (Anmerkung: Es gibt auch eine großformatige Version.)
Hier wird ausgepackt: 428 grell empfindsame Seiten lang legt uns ein namenloser Erzähler in einer überbordenden Vielfalt an grafischen Einfällen Episoden aus seinem Leben mit einer Angststörung vor: Wie er sich vor einer Klassenfahrt drücken wollte, die er mit Hilfe einer verständnisvollen Lehrerin und von Psychopharmaka blendend überstand (auch wenn er sich leider nicht daran erinnert). Wie er sich vor einer beruflichen Besprechung mit Verweis auf den kranken Großvater gedrückt hat, den er natürlich trotzdem nicht im Krankenhaus besucht hat. Wie er mit einer umschwärmten Cousine Spielzeugfiguren beerdigt hat. Ein schlechter Trip (warum nimmt jemand mit Angststörungen halluzinogene Drogen??). Ein furchteinflößendes und demütigendes MRT. Es sind vor allem die Ängste vor Krankheit und Tod, die den Erzähler jagen. Optisch kämpfen matte bunte Blumenmeere und freundliche Tiere gegen schwarze Wucherungen und Skelette. Am Ende steht eine Art Aussöhnung mit der Angst („Am besten schlafe ich, wenn ich den Tod in Kauf nehme“), aber die Angst gewinnt.
Diesem Band wurde Anfang Juni der Max-und-Moritz–Preis für den besten deutschsprachigen Comic verliehen, und diese Jury-Entscheidung ist nicht unumstritten. Müssen wir in einem Land, in dem Kunst immer noch gerne scharf in schreckliche Ghettos für U- und E-Kultur sortiert wird, in dem in einem durchschnittlich gut sortierten Bücherregal immer noch KEIN Comic steht und die Branche zu weiten Teilen ums nackte Überleben kämpft, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem immer mehr deutschsprachige Zeichner*innen U- und E-Muster erfolgreich untergraben, einen Max-und-Moritz-Preis ausgerechnet an einen Comic verleihen, der alle in den letzten Jahren etablierten Marker für einen betont gehobenen Comic bedient? Wenig Sprechblasen, wenig Speedlines, eine eher staksige als dynamische Optik, die sich grundsätzlich an alten osteuropäischen Bilderbüchern für Kinder orientiert, dazu: knallige Primärfarben statt Farbnuancen aus dem Rechner und scheppe Perspektiven, denn hier war keine 3D-Engine am Werk. Und die Buchgestaltung schreit nach einem Kaffeetisch, weniger nach einem Nachttisch.
Anders: Ist das noch Kunst oder schon ein echter Comic?
Kurz: Es ist ein echter Comic.
Es ist ein erzählerisches Werk, das alleine gelesen werden muss, das vor- und zurückgeblättert werden will, das, auf zum Teil ungewöhnliche, hier und da vielleicht auch subversive Art, den üblichen Erzählformen eines Comics folgt, abstrakte Gedanken und subjektives Erleben visuell verbindet, wie es nur ein Comic kann und dazu einladend niedrigschwellig von niemandem völlig fremden Ängsten erzählt, wie es Comics zur Zeit verstärkt tun. Es ist nicht nur ein mutiger, sondern auch ein herausragender (und, unter uns, die meiste Zeit sehr leicht lesbarer) Comic. Eindeutige Empfehlung.
Ja, klar schielt die Gestaltung auf Galerien, aber aus gutem Grund: Bei der getriebenen Suche nach passenden Bildern für das panische Erleben landet von Arb immer wieder bei den expressiven Innen-/Außenwelten von vor gut hundert Jahren und an der damaligen Schnittstelle zwischen Illustration und Galerienkunst, der Geburt des Comics.
Schon das Format von „Fürchten lernen“ erinnert sicher nicht zufällig an die „Bilderromane“ von Frans Masereel, die vor hundert Jahren in expressiven Holzschnitten persönliche Obsessionen („Mein Stundenbuch“, 1919) oder abstrakte Themen (wie „Die Idee“, 1920) behandelten und (zu Unrecht!) nicht überall als Comic und nicht überall als Kunst gelten. Überall ranken sich die Schlingpflanzen aus der Grafik des Jugendstils durch die Seiten, und die puppenhaften Figuren sehen in hellen Farben und verdrehten Posen manchmal aus wie frühe sowjetische Avantgarde. Aber die Verwendung dieser Elemente ist sehr heutig und sehr originell: Hier geht es nicht um Zitate, sondern um den nächsten Schritt. Sieht Panik aus wie ein Disney-Schurke, wie eine von Sally Cruiskshank in den1980-ern gezeichnete Undergroundfratze oder doch wie eine südostasiatische Maske? Ist sie ein ein Gesicht korrumpierender Wulst oder ein auf den Erzähler einprasselndes Gewitter aus schwarzweißen Blitzen? Und von Arb schmückt sich nicht mit Hochkultur; er bricht und verfremdet völlig gegen die Regeln der schicken Anspielung. Seine endlosen Blumenwiesen erinnern zum Beispiel weniger an den frühen documenta-Star Ernst Wilhelm Nay als vielmehr an die von ihm beeinflussten Tapeten und Kitschpostkarten aus den 1950-er Jahren. Von Arb sucht und findet neue Bilder für Ängste und für den Comic an sich.
Aber zumindest diesen Rezensenten plagen, nicht zum ersten Mal, zwei große Fragezeichen: in Bezug auf die Materialauswahl und in Bezug auf den betont subjektiven Blick, die diese Comics immer häufiger zu begleiten scheinen (zum Beispiel It’s lonely at the Center of the Earth).
Wie beinahe zwangsläufig bei einem solch umfangreichen Band mit vielfältigen Zugriffen auf ein Thema schwankt die Qualität der Episoden stark. Die Teile sind definitiv größer als das Ganze und funktionieren unterschiedlich und unterschiedlich gut.
Mein deutlicher Favorit ist das Kapitel über die Klassenfahrt: Der Erzähler (hier sieht er aus wie ein Hase, während er sonst wohl einer japanischen Puppe ähneln soll, aber auch an ein mauliges Monchichi erinnert) versucht, der gefürchteten Fahrt durch die üblichen dummen Schülertricks zu entgehen, bevor eine verständige Lehrerin ihn auf seine offensichtliche Angst hinweist (ihr Mann ist Psychologe), ihm gute Tipps gibt und ihm ein Medikament zusteckt.
Mit dessen Hilfe kann er die Fahrt genießen, sich später allerdings nicht mehr an sie erinnern. Diese alltägliche, ambivalente Episode wird atemberaubend verschroben und einleuchtend erzählt: Der Erzähler ist hier ein Hase und die Lehrerin ein gelbes Menschenmädchen, und genauso ist es. Die drohende Klassenfahrt wird im ersten Panel mit dem Bild von einem Showdown im Western eingeführt. Die fürsorgliche Mutter ist eine gigantische Taube. Die Lehrerin wird dagegen über ihren riesigen weißen Hund charakterisiert, von dem der Erzähler sich vorstellt, dass die Lehrerin entweder in ihm Blumenwiesen versteckt oder umgekehrt alle Monster wegpackt, unter denen sie vielleicht wie der Erzähler leidet. Das ist verblüffend, originell, anschaulich und extrem anrührend.
Die anschließende, viel später spielende Episode über eine unangenehme MRT-Untersuchung beispielsweise ist nicht schlecht und trifft ein paar Punkte, aber bemüht sich nicht einmal um einen vergleichbaren Schwebezustand eines selbstverständlichen Surrealismus, der inneres Erleben auf den Punkt bringt.
Die herausragenden Kapitel (in meinen Augen sind das vor allem der Anfang, das Ende, die Klassenfahrt und die Beerdigungsspiele mit der Cousine) sind wirklich spektakulär und eigenartig und würden alleine bereits einen umfangreichen Band füllen. Nicht zum ersten Mal scheint ein autobiografischer Comic Fokusiertheit gegen ein fragmentarisches A-Z der Gemütszustände zu tauschen.
Bei dieser beinahe auflistenden Aufarbeitung, und da scheint ein zweites grundsätzliches Fragezeichen auf, geht es die meiste Zeit eng um eine geplagte Person. Ich will nicht den strammen Genossen vom Comickombinat spielen, der dekadente Individualität anprangert, und trotzdem fehlt mir hier und da einfach etwas Welt, gerade, wenn es um Ängste geht.
Konkret: Nach der Beerdigung des Großvaters werden der sehr junge Erzähler und seine Geschwister mit einem Videofilm ruhiggestellt, der im Erzähler verstörend splatterartige Angstvorstellungen auslöst. Bei dem Film handelt es sich offensichtlich um die umstrittene Disney-Produktion Taran und der Zauberkessel aus dem Jahr 1985, in dem der skelettartige „Gehörnte König“ mit – unter anderem – giftigen Dämpfen Tote verformt. Die (mehrfach umgeschnittenen) Sequenzen mit dem „Gehörnten König“ haben damals beinahe die mittlerweile erfolgreichste Entertainmentfirma der Welt ruiniert und zu neuen Altersfreigaben wenigstens beigetragen. Das Schreckenspotential dieses Films ist in Wahrheit kein individuelles Problem unseres Erzählers (und schon gar keine spezielle Spinnerei), sondern eine ziemlich massive Fußnote der Medien-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte.
Vielleicht sind unsere Ängste häufig relevanter und weniger einsam, als wir wissen. Und vielleicht kommt das bei der (tapferen!) ausladenden Darstellung persönlicher Abgründe manchmal zu kurz.
Eine Wundertüte voller Angst: sperrig, durchwachsen, monomanisch und anstrengend ambitioniert, aber griffig, inspiriert, ungeschminkt und ziemlich brillant.
Edition Moderne, 2023
Text und Zeichnungen: Nando von Arb
428 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 35,00 Euro
ISBN: 978-3-03731-264-3