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Betty Hill

Wer in den 1990ern mit David Duchovny und Gillian Anderson (aka Mulder & Scully) aufgewachsen ist, trifft alte Bekannte wieder: Betty und Barney Hill wurden 1961, ähem, von Aliens entführt. Seda Demiriz hat einen Comic darüber geschrieben.

Alle Abbildungen: © Seda Demiriz/Jaja Verlag

Irgendwo da draußen muss es doch noch etwas geben – „The truth is out there“. 1999 macht sich John Horrigan auf den Weg nach „da draußen“, genauer: nach Portsmouth, um die inzwischen 80-jährige Betty Hill zu interviewen. Sie und ihr Mann wurden (in UFO-Kreisen, Erich-von-Däniken-Milieus und X-Files-Fan-Foren) berühmt, weil sie am 19. September 1961 (man muss ergänzen: vermeintlich) von Aliens entführt worden sind.

Während einer mehrstündigen nächtlichen Autorückfahrt von Montreal nach Portsmouth macht Betty eine beunruhigende Beobachtung: Ein seltsames Flugobjekt scheint sie zu verfolgen, aber nichts Genaues weiß man nicht. Ehemann Barney (am Steuer, ungläubig) hält an, in der Hoffnung, das Objekt durch sein Fernglas einwandfrei als Passagierlinienflugzeug zu identifizieren. Da sich das Ufo aber als Ufo entpuppt, beschließt Barney, zusammen mit seiner Frau so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Im nächsten Waldstück holen die Aliens das rasende Ehepaar aber ein und sorgen damit für eine der berühmtesten Alien-Begegnungen im Rahmen der Ufo-Hermeneutik.

Das Ehepaar wacht wieder auf, etwas desorientiert, mit schmutziger Kleidung, mit zwei Stunden unerklärlichem Zeitverlust (kennen wir doch von den X-Files) und seltsamen Alpträumen. Was sich tatsächlich in dieser Nacht zugetragen hat, wird man niemals erfahren. P.S.: Meistens ist die Wirklichkeit weit weniger spannend als die Alltagsmythologie.

Die Autorin hierzu: „Ich fand moderne Sagen, sogenannte ‚Urban Legends‘, schon immer interessant – Ängste und Unerklärliches, eingebettet in eine fragwürdige Story mit Wahrheitsanspruch. Man hat immer den Eindruck, es geht eher um innere Zustände als um die tatsächlich beschriebene Handlung.“

Betty Hill ist eine schmale Erzählung. Auf 48 Seiten erzählt die Mainzer Grafik-Designerin Seda Demiriz in ihrem Comic-Debüt die Geschichte des Ehepaares, gerahmt durch die Interviewsituation aus dem Jahr 1999: „Ich bin auf YouTube auf das Videointerview mit Betty Hill gestoßen. Es hat sehr gut zu meiner selbst gestellten Aufgabe der zwei Erzählebenen gepasst: die Interview-Situation einerseits, das Schwarzweiß für die Nachtszenen andererseits.“ Demiriz hat Betty Hill in zwei Monaten während ihres Studiums der Kommunikationswissenschaft an der Hochschule Mainz verfasst, allerdings nicht als Seminararbeit, sondern als freies Projekt, um sich dem Medium Comic zu nähern.

Der Fall um Betty Hill ist in der Ufo-Szene breit diskutiert, über ihn ist vieles gesagt und geschrieben worden (John Fuller: The Interrupted Journey, 1966). Psychiater haben mit den Beteiligten gesprochen, Hypnosen durchgeführt, Diagnosen angestellt. Als nach damaliger Auffassung „gemischtrassiges“ Ehepaar mögen die beiden, so mutmaßte der Psychiater des Paares, unter hohem gesellschaftlichen Druck gestanden haben, und diese gemeinsame Phantasie möge eine Verarbeitung dessen gewesen sein.

Sitzen wir einer Betrügerin auf? Einer alten Dame, deren Ehemann früh gestorben ist und die nun die Aufmerksamkeit der Medien genießt? Dem Opfer einer interstellaren Menschenschlepperbande? Inwiefern lässt sich die Alien-Begegnung als Spiegelung der Ehe verstehen (Hashtag „Otherness“)?

Der Comic stellt diese Fragen leider nicht, sondern folgt dem Interview durch John Horrigan und versäumt es, der redseligen Selbsterzählung eine kontrastive Perspektive hinzuzufügen. Die „inneren Zustände“ des Ehepaars bleiben weitgehend ausgeblendet, und so fügt der Comic Betty Hill dem Interview wenig hinzu. Warum musste diese Geschichte 2019 erneut (nach-)erzählt werden, ohne dass eine eigene Interpretation einen neuen Schwerpunkt setzt? Die Rahmung durch die Interviewsituation, die Markierung von erzählerischer Unzuverlässigkeit, die Kontextualisierung mit gesellschaftlichen oder politischen Entwicklungen in den 1960ern (der zeittypische Ufo-Hype) – all dies wären Möglichkeiten gewesen, die Story zu einer wirklich schönen Erzählung zu machen. So fehlen dem Comic leider sowohl der Erzählanlass als auch eine Pointe.

Die Autorin, Seda Demiriz, arbeitet derzeit an einem neuen Projekt: „Dieser Comic ist eine Sammlung kurzer, z.T. autobiografisch inspirierter Anekdoten zu den 1990ern und 2000ern. Mitten im Aufkommen von Internet und Handy.“ By the way: Seitdem jede Ufo-Sichtung, die nicht von einem Dutzend Smartphones festgehalten wird, als unglaubwürdig gelten muss, haben solche Erscheinungen rapide abgenommen. Auch die X-Files sind Vergangenheit, die Neuauflage der TV-Serie 2016 war nur ein lauwarmer Aufguss des TV-Hits von damals.

Demiriz endet ihre Geschichte mit Betty, die sich einen Kaffee kocht. Überhaupt: Gleich mehrfach wird das koffeinhaltige Heißgetränk prominent in Szene gesetzt – für die Autorin gehört dieser zum Zeichenalltag dazu. Vielleicht hätte den Hill-Eheleuten ein wenig mehr Kaffeekonsum vor der Autofahrt auch gutgetan.

Back in the Nineties

5von10Betty Hill
Jaja, 2019
Text und Zeichnungen: Seda Demiriz
48 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 11,00 Euro
ISBN: 978-3-946642-60-2
Leseprobe

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