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2x „Eine Kindheit“: Landei und Der Araber von morgen

Zwei Comics, deren Schöpfer mehr oder weniger autobiographisch von ihrer Kindheit erzählen – grundverschieden, aber doch mit mehr Gemeinsamkeiten, als man zunächst denken würde.

Der Araber von morgen Landei

Die beiden Bücher, die hier betrachtet werden sollen, sind fast zeitgleich erschienen, wobei allerdings das eine deutlich mehr Aufmerksamkeit abbekommen hat als das andere: Der Araber von morgen war in Frankreich ein veritabler Bestseller; angeblich gab es ein regelrechtes Wettbieten um die deutschen Rechte, die schließlich der eher wenig comic-affine Knaus Verlag, ein Teil der mächtigen Random-House-Gruppe, erhielt. Kurz vor Erscheinen der deutschen Ausgabe wurde das Buch beim Festival von Angoulême als bestes Album des Jahres ausgezeichnet. Entsprechend groß war die Beachtung, die der Comic in der Presse fand, zumal Autor und Zeichner Riad Sattouf lange Jahre auch für Charlie Hebdo gearbeitet hatte, das in jenen Tagen aus furchtbarem Anlass in aller Munde war.

Von Landei dagegen wurde in Feuilleton wie Fachpresse bislang nur wenig Notiz genommen – dabei ist die Zeichnerin und Autorin Christiane Pieper kein unbeschriebenes Blatt: Sie hat mehr als 40 Kinderbücher illustriert und auch einige selbst geschrieben, Landei ist nun ihr erster Comic. Dessen Protagonistin heißt Inga, trägt also einen anderen Namen als die Autorin, dürfte aber vieles mit ihr gemeinsam haben. Sowohl Inga als auch Christiane kommen in den 1960er Jahren zur Welt und wachsen auf einem Bauernhof in einem kleinen westdeutschen Dorf auf.

© Riad Sattouf/Knaus

© Riad Sattouf/Knaus

Riad Sattouf ist zwar 16 Jahre jünger als seine deutsche Kollegin, doch deckt sein Buch fast die gleiche Altersspanne der Hauptfigur ab. Beide Bücher beginnen quasi mit der Geburt und enden kurz vor der Einschulung – es geht also um jene Jahre, an die man sich selbst als Erwachsener nur bruchstückhaft erinnert, oft gestützt durch Fotos oder oft wiederholte Erzählungen der Verwandschaft. Dazu passt, dass sowohl Sattouf als auch Pieper eher episodenhaft erzählen. Der rote Faden ist jeweils das langsame Älterwerden der Hauptfigur, aber auf eine durchgehende Dramaturgie wird eher verzichtet. In Landei ist das Fragmentarische stärker ausgeprägt: Der Comic besteht aus vielen kurzen Kapiteln, die zwischen einer und zehn Seiten lang sind und jeweils ein bestimmtes Thema oder einen Lebensaspekt behandeln. Vom Älterwerden Ingas abgesehen, könnte man diese Kapitel auch in einer beliebigen Reihenfolge lesen.

Bei Sattouf ist das anders, er erzählt stärker chronologisch, was nicht zuletzt daran liegt, dass seine Kindheit eine völlig andere war: Auf Ingas Bauernhof bringen die Jahreszeiten die größten Veränderungen, ansonsten geht es dort recht ruhig und beschaulich zu. Riad dagegen ist das Kind einer Französin und eines Syrers und muss ständig mit einer neuen Umgebung und neuen Situationen umgehen: Geboren wird er in Frankreich; als er etwa zwei Jahre alt ist, zieht seine Familie nach Libyen um, zwei Jahre später geht es für eine Weile zurück nach Frankreich, ehe die Sattoufs nach Syrien, in die Heimat des Vaters, übersiedeln.

© Christiane Pieper/Edition Moderne

© Christiane Pieper/Edition Moderne

Dieser Hintergrund macht dann auch den größten Unterschied zwischen den beiden Büchern aus: Die Kindheit, die Christiane Pieper beschreibt, ist den Lesern bekannt, für viele von ihnen gleicht sie der eigenen. Wer selbst auf dem Land aufgewachsen und ähnlich alt ist wie die Autorin, wird sich oft an Szenen aus der eigenen Kindheit erinnern und einen wohligen „So ähnlich war’s bei mir“-Effekt verspüren. Die Welt von Landei ist eine vertraute, allenfalls für deutlich jüngere Leser oder solche, die in der Stadt groß wurden, dürften gewisse Aspekte ungewöhnlich oder exotisch sein.

Ganz im Gegensatz zum Araber von morgen, der seinen Reiz hauptsächlich daraus bezieht, dass diese „Kindheit im Nahen Osten“ (so der Untertitel) so ganz anders ist als die der allermeisten Leser. Riad Sattouf nimmt uns mit in Regionen und Kulturen, die wir meist nur aus den Fernsehnachrichten kennen – vornehmlich als Krisenherde, und das seit Jahrzehnten. Er vermittelt damit nicht nur persönliche Erinnerungen an seine Kindheit, sondern auch Informationen über fremde Länder und Sitten, die für viele Leser neu sein dürften. Im Off-Kommentar stehen dementsprechend erklärende Texte. Hier spricht nicht der kleine Riad, sondern der Erwachsene, der mit zeitlichem Abstand zurückblickt und sein Wissen teilt – zum Beispiel über den syrischen Präsidenten al-Assad und dessen religiösen Hintergrund.

© Riad Sattouf/Knaus

© Riad Sattouf/Knaus

Christiane Piepers Erzählhaltung ist eine andere – hier bekommen wir konsequent den Blickwinkel des kleinen Kindes, auch in den Off-Texten. Man kann also sagen: Auch wenn beide Comics stets bei ihrer jungen Hauptfigur bleiben und aus deren Perspektive erzählen, haben wir bei Sattouf zusätzlich einen kommentierenden, erwachsenen Erzähler im Hintergrund, während bei Pieper stets ein Kind erzählt (bei Fremdworten teilweise mit falschen Schreibweisen wie „Kronische Brongchitis“). So entsteht in Landei ein sehr warmer, sympathischer Erzählton, der für eine starke Bindung zur Hauptfigur sorgt, während der Erzähler in Der Araber von morgen immer eine gewisse Distanz hält, die dann auch für den Leser gilt. Beide Ansätze sind legitim und für den jeweiligen Comic wohl auch genau richtig, dennoch ist es interessant, die Unterschiede in der Erzählperspektive und deren Wirkung zu beobachten.

Auch zeichnerisch kann man Parallelen, aber auch Unterschiede feststellen. Beide richten sich an ein Publikum, das nicht ausschließlich aus Comic-Viellesern besteht und verwenden ein klassisches Panellayout ohne große Experimente im Seitenaufbau, wobei Pieper des öfteren das Format zugunsten größerer Panels und ganzer Splashpages sprengt. Bei Sattouf gibt es hingegen nur ein einziges Splashpanel, auf der letzten Seite des Buches in einem sehr emotionalen Moment. Beide zeichnen in einem eher einfachen, reduzierten Stil und verwenden typische Elemente des Funny-Comic wie Knollennasen oder übertriebene, groteske Mimik. Auch das sorgt für eine leicht zugängliche, für jeden verständliche Bildsprache. Piepers Strich ist im Vergleich etwas lockerer und unmittelbarer, sie verzichtet meist auf detaillierte Hintergründe oder lässt den Hintergrund gleich komplett weg. Sattouf bevorzugt klare, filigrane Linien und füllt seine Panels oft auch mit etlichen kleinen Details an.

© Riad Sattouf/Knaus

© Riad Sattouf/Knaus

Der auffälligste Unterschied auf der grafischen Ebene ist die Farbe. Im Prinzip sind beide Titel Schwarz-Weiß-Comics, die lediglich durch Schattierungen ergänzt werden. In Landei sind das ein paar sparsam eingesetzte Grautöne, während Sattouf mit unterschiedlichen Schmuckfarben arbeitet: Je nach Schauplatz der Handlung sehen wir blaue, gelbe oder rötliche Schattierungen. Natürlich ließe sich das mehr oder weniger tiefsinnig interpretieren (Libyen ist gelb wie die Wüste, Frankreich ist kühl und blau), doch in erster Linie erleichtert es dem Leser die Orientierung beim häufigen Wechsel des Handlungsorts und ist eher ein nettes Gimmick als ein tragendes Stilmittel. Interessanter sind da schon die wenigen Panels, in denen Sattouf zusätzlich eine zweite Farbe verwendet. Wenn nach Dutzenden gelb gefärbten Panels plötzlich ein bestimmter Gegenstand, ein Körperteil oder eine Sprechblase in einem kräftigen Grün gefärbt ist, so wirkt das als klares Signal und setzt deutliche Akzente. Hier hat Sattouf ein originelles Stilmittel gefunden, das er effektiv einsetzt. Doch auch Christiane Pieper weiß Besonderheiten der Comicsprache für sich zu nutzen: Sie hat besonderes Gefallen an Soundwords gefunden und verwendet ein paar wunderschöne Exemplare davon. Da ist etwa der VW Käfer, der nicht starten will und nur ein „iju iju iju“ von sich gibt.

Und welcher der beiden ist nun der stärkere Comic? Schon möglich, dass Der Araber von morgen zunächst mal einen größeren Eindruck hinterlässt: Das Buch hat das (ge)wichtigere Thema, erscheint visuell attraktiver und bietet inhaltlich Neues und Unbekanntes, während Landei grafisch etwas spröder daherkommt und im Prinzip Altbekanntes wiedergibt. Pieper hatte eben eine viel „normalere“ und weniger aufregende Kindheit als Sattouf. Doch das muss nicht heißen, das Landei deshalb der uninteressantere Comic ist.

Besonderes Augenmerk legt Christiane Pieper auf die Geschlechterfrage. Es ist nicht einfach nur ein Kind, das da erzählt, es ist ganz ausdrücklich ein Mädchen. Und dieses Mädchen macht sich Gedanken: über Frauen im Fernsehen, die stets um Sauberkeit bemüht und dabei immer top aussehen, ganz anders als die eigene Mutter, über Fernsehserien, in denen nur ganz wenige Mädchen und Frauen vorkommen, und über ihr Umfeld, in dem Männer stets bevorzugt behandelt werden. Durch Landei zieht sich eine erkennbare feministische Haltung, die nie mit dem Holzhammer daherkommt, sondern auf kleine und große Veränderungen hinweist, die es in den letzten Jahrzehnten zwischen den Geschlechtern gab. Landei ist somit auch ein klares Bekenntnis zur Gleichberechtigung.

Davon ist bei Sattouf wenig zu spüren. Seine Mutter spielt im Comic nur eine Nebenrolle: Sie bleibt meist schweigend und passiv und folgt ihrem Mann bei seinen Jobwechseln zwischen Frankreich und Nahost. Die wenigen anderen weiblichen Figuren im Fernsehen sind seltsame, undurchschaubare Frauen, die zwar nett sind, denen man aber besser mit etwas Misstrauen begegnet. Möglicherweise ändert sich das im zweiten Teil, aber bislang ist die arg untergeordnete Rolle der Mutter ein Manko an Sattoufs Erzählung.

© Christiane Pieper/Edition Moderne

© Christiane Pieper/Edition Moderne

Bei Christiane Pieper spielen Vater und Mutter sehr viel ausgewogenere Rollen. Beide sind wichtige Bezugspunkte und Vorbilder für Inga, wobei der Mutter einer der stärksten Momente des Buches gehört: Sie wird in den letzten Kapiteln schwer krank und die Familie muss um das Leben der Mutter bangen, was die Zeichnerin auf sehr eindringliche Weise zu Papier bringt.

Riad Sattouf arbeitet sich dagegen sehr stark am Vater ab – eine schwer durchschaubare, aber gleichzeitig die interessanteste Figur des Buchs. Er hat eine eigenartige politische Haltung, die einerseits modern und liberal ist und die Bedeutung der Bildung betont, gleichzeitig aber auch Diktatoren huldigt und abergläubische Rituale pflegt. Sein größtes Lebensziel scheint es, sehr sehr reich zu werden. Sattouf fällt über ihn kein eindeutiges Urteil, sondern zeigt den Vater in all seinen Widersprüchen und überlässt dem Leser die Einordnung. Es ist aber klar, dass er den Vater eher nicht als leuchtendes Vorbild sieht.

Das gilt so ähnlich auch für Sattoufs Haltung zu den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen und Missständen in Libyen und in Syrien. Er beobachtet und beschreibt, die Bewertung findet eher subtil, beziehungsweise erst im Kopf des Lesers statt. Dieser Verzicht auf einfache Wahrheiten und simples Schwarz-Weiß-Denken ist durchaus zu loben, aber so manches Mal hätte man sich mehr satirische Schärfe gewünscht. Eine Schärfe, die in Sattoufs Buch Meine Beschneidung deutlich stärker ausgeprägt ist. Etwas mehr von dem Biss, der diesem kompakten Comic zu eigen ist, hätte auch dem Araber von morgen gut getan.

Vielleicht hat sich Sattouf das für die Fortsetzungen aufgespart, denn sein Kindheits-Comic ist als Trilogie angelegt. Der zweite Teil, der sich mit den Jahren 1984 und 1985 beschäftigt, ist in Frankreich bereits erschienen, ein dritter ist in Planung und selbst ein vierter ist nicht ausgeschlossen. Auch Christiane Pieper hat genügend Stoff für weitere Teile von Landei („Material ist ohne Ende da“, sagt sie in einem Deutschlandfunk-Interview). Ob es dazu kommt, wird vom Erfolg des ersten Bands abhängen. Zu wünschen wäre es, denn Landei zeigt, dass auch das scheinbar so alltägliche Aufwachsen in Deutschland viele interessante Aspekte hat, die es wert sind, erzählt zu werden.

Der Araber von morgen. Eine Kindheit im Nahen Osten (1978-1984)
Knaus, 2015
Text und Zeichnungen: Riad Sattouf
Übersetzung: Andreas Platthaus
160 Seiten, farbig, Softcover
Preis: 19,99 Euro
ISBN: 978-3-8135-0666-2
Leseprobe
Landei. Eine Kindheit
Edition Moderne, 2015
Text und Zeichnungen: Christiane Pieper
128 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 19,80 Euro
ISBN: 978-3-03731-135-6
Leseprobe

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