Am 1. April ist der amerikanische Zeichner Ed Piskor verstorben. Nachdem ihm einige Tage zuvor sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wurde, hat er beschlossen, sich das Leben zu nehmen. Letztes Jahr ist sein Comic Red Room auf Deutsch erschienen.
Der amerikanische Zeichner und Autor Ed Piskor (1982–2024) veröffentlichte Wizzywig (2012, 2014 bei Egmont), einen fiktiven Comic über einen Computerhacker, X-Men: Grand Design (2018) und die Horror-Serie Red Room (2021-24, seit 2022 bei Skinless Crow) und die für diverse Eisner Awards nominierte Serie Hip Hop Family Tree (2013–21). Am 1. April nahm Ed Piskor sich das Leben.
Seither haben viele Kreative Beileidsbekundungen veröffentlicht. Der amerikanische Zeichner Brandon Graham widmete Ed Piskor einen Strip, der Image-Mitgründer Rob Liefeld hat in einem emotionalen Videostatement auf Instagram seine Trauer zum Ausdruck gebracht. Auch Public-Enemy-Altstar Chuck D und der Zeichner Simon Hanselmann haben sich dazu geäußert. Was war geschehen?
Am 24. März veröffentlichte eine junger Zeichnerin namens Molly Dwyer via Instagram (@sydgoblin) eine Reihe von Chatnachrichten zwischen Piskor und der damals 17-Jährigen aus dem Jahr 2020. Wir lesen in den von ihr veröffentlichten Auszügen kurze Dialoge zwischen den beiden, die sich offenbar über einen längeren Zeitraum erstrecken. Sie schickt ihm Fotos ihrer Zeichnungen, er kommentiert diese. In den Kommentaren beschuldigt sie Piskor, er sei „creepy“ und habe sie belästigt, obwohl sie damals erst 17 Jahre alt gewesen sei. Er stehe auf High-School-Girls. Diese Vorwürfe hatten weitreichende Folgen.
Kurz darauf beschuldigte eine weitere Frau namens Molly Wright Ed Piskor, ihr die Telefonnummer eines Agenten versprochen zu haben, wenn sie Sex mit ihm habe, und damit wurde die Sache groß. Harvey-Weinstein-groß.
Am 26. März berichtete ein lokaler TV-Sender, sprach Piskors Vater vor dessen Wohnhaus auf die Anschuldigungen an und berichtete von einer Ausstellung, die aufgrunddessen zunächst verschoben wurde. Der Stein kam ins Rollen, und wir wissen, wie es mit Steinen weitergeht. Piskors Freunde und Weggefährten distanzierten sich öffentlich, während dieser seine Social-Media-Kanäle deaktivierte. James Rugg, Piskors Partner bei dessen gemeinsamem Youtube-Channel Cartoonist Kayfabe, der derzeit hat (Stand 04.04.2024), beendete die Zusammenarbeit. Diverse Medien berichteten sofort und wiederholten die Vorwürfe.
Als Piskor sich am 1. April das Leben nahm, hinterließ er einen offenen, fünfseitigen Brief, in dem er deutlich zu machen versuchte, dass er sich nichts zu Schulden habe kommen lasse, dass er keine sexuellen Absichten gehabt habe und die Äußerungen der zweiten Frau schlichtweg erlogen seien. In dem bewegenden Dokument regelt er außerdem seinen Nachlass und rechnet mit manchen Protagonisten des Medienskandals ab. Mehrfach wiederholt er, dass er nicht das Gefühl habe, nun länger Teil der Comic-Gemeinschaft zu sein, die ihm alles bedeutet habe:
„I have no friends in this life any longer. I’m a disappointment to everybody who liked me. I’m a pariah. News organizations at my door and hassling my elderly parents. It’s too much. Putting our addresses on tv and the internet. How could I ever go back to my small town where everyone knows me?“
Man kann viel Zeit damit verbringen, die Statements der Beteiligten zu verfolgen, die gekürzten Screenshots der von Molly Dwyer veröffentlichten Chats auf Zweideutiges zu untersuchen oder diese Tragödie zum Anlass zu nehmen, über #metoo oder Cancel Culture zu sprechen, aber damit ist eigentlich nichts gewonnen. Wer mag schon urteilen, ob die Beschuldigungen zutreffen oder sie nur Ausdruck des übersteigerten Geltungsdranges eines Fans sind? Sollen das die Soziologen, Psychologen und die Strafermittlungsbehörden klären. Es ist so leicht, eine Meinung dazu zu entwickeln, und es scheint so schwierig, sie nicht zwanghaft herauszuposaunen. Dieser Fall macht einfach nur betroffen, weil seine Eltern und Geschwister nun mit einem sinnlosen Verlust leben müssen.
Und Comicfans bedauern, dass ein Künstler nun nichts mehr hinterlassen wird als das schmale Werk, das uns nun vorliegt: Wizzywig, Hip Hop Family Tree (hier übrigens online), X-Men – Grand Design, Red Room und das umfangreiche Projekt Switchblade Shorties, dessen Veröffentlichung bei Abrams zunächst auf Eis gelegt wurde. Und natürlich der Youtube-Channel Cartoonist Kayfabe, auf dem weiterhin vor dem 1. April aufgezeichnete Videos publiziert werden.
Am besten tut man daran, nicht die vielen Social-Media-Posts der letzten Wochen zu lesen, weil man darin ganz offenbar wenig über Ed Piskor und sein Werk erfährt, sondern Piskors Comics selbst. Seine Serie Red Room wird derzeit auf Deutsch bei Skinless Crow veröffentlicht. Die ersten beiden der auf drei Teile angelegten Serie sind bereits erschienen.
Red Room
In dem ersten Band, „The Antisocial Network“, lernen wir zunächst einmal das Setting kennen. Der übergewichtige Polizist Davis Fairfield verliert bei einem Autounfall seine Frau und muss fortan die gemeinsame Tochter Brianna allein großziehen. Ganz von der Fürsorge für Brianna eingenommen, verwahrlost er immer wieder, äußerlich wie moralisch. Er besucht im Internet, im sagenumwobenen Darknet, Orte, die gesetzestreue Familienväter eher meiden sollten: Red Rooms.
Als „Red Rooms“ werden Websites bezeichnet, auf denen die reale Folterung und Tötung eines Menschen zur Schau gestellt wird, um Geld zu verdienen. Allem Anschein nach handelt es sich um eine Urban Legend, eine technologisch avancierte Version der ebenso legendären „Snuff Videos“ aus der Ära der Videorecorder. Ed Piskor hat die bei Fantagraphics erschienene Serie soeben abgeschlossen – der gewaltfreudige Comic hat insbesondere durch ein Variant-Cover vom Jim Rugg großen Aufruhr verursacht, weil er wenig Geschmackssicherheit bewies, als er das Cover von Art Spiegelmans Maus parodierte.
Was für ein zerrissener Charakter ist Davis doch, dessen Leben in berufliche und familiäre Pflichten sowie in ein Freizeitverhalten zerfällt, das diesen diametral gegenübersteht: amoralisch und ungesetzlich. Davis besucht diese illegalen Websites, deren Betreiber sich in Bitcoins auszahlen lassen und hohe Gewinne einfahren. Wir erhalten auch einen Einblick in die Gedankenwelt der Produzenten und deren Kampf um die Aufmerksamkeit der Kund:innen.
Viel Raum nehmen die sehr expliziten Gewaltdarstellungen ein, die, ganz und gar der Aufmerksamkeitsökonomie verpflichtet, sich ständig überbieten müssen, um profitabel zu bleiben. Gliedmaßen werden amputiert, Haut abgezogen, und es gibt diverse Einfälle mit Augen. Auch Davis entdeckt sein Talent als Folterknecht unter dem Spitznamen „The Decimator“, denn er will die Opfer „auf 10% der eigenen Körpermasse zu reduzieren, während sie die ganze Zeit noch am Leben sind“. Das klingt nicht weniger brutal als es aussieht. Und wer den ersten Band nicht angewidert zur Seite gelegt hat, wird im zweiten Band, „Trigger Warnings“, noch eine Steigerung erleben. Sowohl auf der Darstellungs- wie auch auf der Erzählebene, denn nun werden die Pointen der einzelnen Stories noch raffinierter.
Auf den letzten Seiten von „Trigger Warnings“ erfahren wir die Geschichte von Mr. Gump. Einst ein angesehener Puppenspieler und von Kindern bewunderter Medienstar fürchtet er nun, dass seine kriminelle Red-Room-Geheimidentität als Mr. NFT an die Öffentlichkeit komme. Um seiner Verhaftung zuvorkommen, wählt er den Selbstmord. Diese 2022 veröffentlichte Story sieht aber nur auf den ersten Blick wie eine Analogie zu Piskors Selbstmord aus. Zumindest war Gump wie Piskor klar, dass es daraus keinen Ausweg gibt: „No public statements would do. Nobody against me would be convinced“, so Piskor in seinem Abschiedsbrief.
Red Room offenbart die zerstörerische Logik eines ungeregelten Webs weit über eine Anklage moralischer Verwahrlosung hinaus. Wie ironisch, dass für Ed Piskor nicht die grausamen Bilder der Red Rooms tödliche Folgen hatten, sondern ausgerechnet das „Antisocial Network“ der schönen Bilder, Instagram. In Red Room geht es immer wieder um die sich wechselseitig verstärkenden Effekte dieser bizarren Social-Media-Welt. Wie Menschen sich aufschaukeln und das Schlechteste in ihnen emporkommt. Und schließlich fand sich einer im Red Room wieder und fand nicht mehr heraus. Was für ein Mist.
Skinless Crow, 2022
Text und Zeichnungen: Ed Piskor
Übersetzung: Jacqueline Stumpf
160 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 29,50 Euro
ISBN: 978-3039630011
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Skinless Crow, 2023
Text und Zeichnungen: Ed Piskor
Übersetzung: Jacqueline Stumpf
116 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 29,50 Euro
ISBN: 978-3039630165
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