Der Diogenes-Club – eine Bar, in der viele verschiedene Gestalten aufeinandertreffen und ihren Feierabend verbringen: ein Mann, der an einer kuriosen Geschlechtskrankheit leidet; Freunde, die sich gegenseitig mit Geistergeschichten unterhalten; oder alte Bekannte, die fleischlustigen Frauen zum Opfer gefallen sind. Das ist der Ort, an dem Neil Gaimans und Mark Buckinghams Mögliche Geschichten (Likely Stories) erzählt werden.
Der Titel des Comics ist an Groucho Marx und sein bekanntes Zitat „A likely story… and probably true!“ angelehnt, ebenso wie die Szenerie des Comics. Der Diogenes-Club erinnert an alte Bars wie den Groucho-Club, in denen Schriftsteller, Filmemacher oder Beatniks zusammenkamen, um sich über Literatur, Politik und andere zeitgenössische Themen auszutauschen. In jeder der vier Kurzgeschichten des Comics spielt der Club eine Rolle und er verbindet die verschiedenen Erzählungen unterschwellig miteinander. Allerdings unterhalten sich die Figuren hier nicht etwa über politische Themen, sondern es handelt sich bei ihren Gesprächen stets um angsteinflößende Erlebnisse.
Anders als in vielen anderen Werken Gaimans, wie der Sandman-Serie, liegt die Konzentration in Mögliche Geschichten nicht auf Fantasy-Elementen, mystischen Entitäten oder Mythologie, sondern der Comic lässt sich vorrangig dem Horror-Genre zuordnen. Die Geschichten erinnern an Erzählungen von H.P. Lovecraft, in denen düstere Gestalten und bizarre Orte eine ungemütliche Atmosphäre schaffen, der man sich als Leser nicht entziehen kann (und die man am besten bei Tageslicht genießen sollte). Es werden Gebäude abgebildet, von denen man lieber nicht wissen will, was sich hinter ihrer Eingangstür verbirgt. Oder man vernimmt Schreie von Tieren und traut sich nicht, auf die nächsten Panels zu schielen, um zu erfahren, was es mit diesen auf sich hat.
Dabei macht den Horror in dem Comic nicht das aus, was man als Leser sieht, etwa viel Blut und Gore, sondern vielmehr das, was man erahnt – und die Spannung, die in den Erzählungen steckt. Auch wenn man denkt, dass man das Ende jeder Kurzgeschichte durchschaut hat und sich den Horror vorstellt, der die jeweilige Geschichte auflösen wird, hält jede Erzählung am Ende ihres retardierenden Moments doch einen Twist bereit. Dieses Spannungschaffen wird durch den unaufgeregten und klaren Zeichenstil Buckinghams (Miracleman, Fables) unterstützt, der den Horror mit seinen Schattierungen zwar eindrucksvoll darstellt, jedoch zurückhaltend genug ist, um das Narrative wirken zu lassen.
Neben den angesprochenen Bezügen zu Lovecraft gibt es weitere intertextuelle Referenzen. In dem Comic wird etwa auch die Beat-Generation thematisiert. Im Mittelpunkt der Geschichten stehen Personen – hauptsächlich Männer –, die ein unkonventionelles und chaotisches Leben führen, in den Tag hineinleben oder der Kunstszene angehören. Die Geschichten handeln von Fotografen, Punks, dem Unterwegssein, der Entdeckung der Natur oder auch der Überwindung von Tabus – alles Motive der literarischen Subkultur der 1950er Jahre. Und die Beat-Generation ist nicht die einzige Subkultur bzw. die einzige Kunstrichtung, die in dem Comic aufgegriffen wird. So machen Gaiman und Buckingham in Mögliche Geschichten eine kleine Reise durch die Musikgeschichte und beziehen sich indirekt unter anderem auf David Bowie, die Sex Pistols und The Stranglers. Es gibt literarische Verweise auf Arthur Conan Doyle, William Shakespeare und Kim Newman – sowie Referenzen auf die Kulturgeschichte Großbritanniens und vor allem Londons.
Es werden Straßennamen in dem Comic erwähnt, die eine lange Tradition haben, etwa die Tottenham Court Road, in der in den 1960er Jahren ein bekannter Club zu finden war, in dem Bands wie Pink Floyd spielten. Eine andere berühmte Straße ist die Carnaby Street in Soho, in der Gruppen wie die Rolling Stones und The Who ihr Quartier aufschlugen und in Clubs auftraten oder ihre Songs in nahegelegenen Studios aufnahmen. Der Londoner Stadtteil Hampstead wird angesprochen, der seit den Tagen Lord Byrons und Mary Shelleys als Habitat für Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle als auch für Leute aus dem Showbiz und Film (darunter George Orwell und Agatha Christie) bekannt ist. Zuletzt wären noch die Old Compton Street – der Geburtsort des britischen Rock’n‘Roll – sowie die King’s Road, die in den 1960er und 1970er Jahren ein Zentrum der Hippie-, Punk-, und Mod-Bewegungen war, zu nennen.
Der Comic bietet dem Leser neben einer Kompilation aus Horrorgeschichten also auch eine Reise durch die Geschichte Londons und dessen (Sub-)Kulturen (falls jemand nach einem leicht verstörenden Reiseführer sucht).
Zusammenfassend verbinden Gaiman und Buckingham in Mögliche Geschichten erzählerische Elemente, von denen man nie gedacht hätte, dass sie miteinander zu tun hätten: Horror, Motive der Beat-Literatur sowie (pop-)kulturelle Verweise. Und überraschenderweise: Es funktioniert. Man wünscht sich als Leser, selbst im Diogenes-Club zu sitzen, den bizarren Geschichten der einzigartigen Gestalten dort zu lauschen und mit Jack Kerouac (beziehungsweise seinem seltsamen kleinen Bruder) On The Road zu gehen – auf die feine englische Art versteht sich.
A likely story… and probably scary!
Dantes Verlag, 2020
Text: Neil Gaiman
Zeichnungen: Mark Buckingham
Übersetzung: Jens R. Nielsen
84 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3-946952-64-0
Leseprobe