Homers antike Verserzählung von Odysseus aus dem 8. Jh. v. Chr. ist der Ahnvater aller Reise- und Heimkehrerzählungen. Emmanuel Lepage und Sophie Michel haben mit ihrem Comic Die Fahrten des Odysseus eine Reise durch wilde Gewässer gewagt.
Die Fahrten des Odysseus handelt von dem Maler Jules Toulet, der von Istanbul aus auf Reisen geht und seine Liebe, Anna, sucht. Das Fernweh treibt ihn auf ein Schiff mit dem Namen „Odysseus“, auf dem überraschenderweise eine Kapitänin das Sagen hat: Salome Ziegler hat sich ihre Autorität an Bord hart erarbeitet, wie wir in Rückblenden erfahren, und ist durch die Schule ihres seefahrenden Mannes gegangen, der seit einem Unfall nicht mehr in der Lage ist, zur See zu fahren. Dies ist nicht der einzige Unfall in diesem Comic.
Salomes Mutter ist während eines Strandausflugs bei einem Sturz von der Klippe ums Leben gekommen, während der zum Familienmaler aufgestiegene Ammon Kasacz, „einer der größten gegenwärtigen Maler des antiken Griechenland“, sie porträtierte. Kasaczs Auftrag bestand vor allem darin, die zentralen Geschichten aus der Odyssee, Homers antikem Epos, zu illustrieren, weil dies das Lieblingsbuch der Familie sei. Nach dem Tod der Mutter, in die Kasacz sich während er langen Zusammenarbeit verliebt hatte, verlässt er die Familie und verschwindet.
Salome hat es sich nun zu einer Lebensaufgabe gemacht, die verstreuten Zeichnungen des Malers aufzutreiben, und reist zu diesem Zwecke durch die Länder. Jules Toulet ist ihr dabei ganz unverhofft eine große Hilfe.
Es beginnt sperrig, mit seitenweisen Zitaten aus Homers Odyssee, in der deutschen Ausgabe nach der klassischen Übersetzng von Johann Heinrich Voss. Das ist nicht der einfachste Einstieg, muss doch der Duktus des Altphilologen aus dem 18. Jh. uns inzwischen sprachlich etwas altmodisch vorkommen. Es handelt sich auch gar nicht um eine Literaturadaption in dem Sinne, dass Lepage und Michel hier die Handlung von Homers Odyssee einfach wiederholen würden. Es ist viel raffinierter.
Lepage und Michel haben seichtes Gewässer gemieden und nicht nur die Handlung in Bilder gesetzt, sondern ein ganz gewitztes Spiel aus Adaption und freier Aneignung gewagt. Natürlich hat die Reise von Salome die Qualität einer Odyssee, also einer „Irrfahrt“, ebenso diejenige des etwas blasseren Reisegefährten und Malers Jules. Auch der Name ihrer Schiffes verbindet den Comic mit der literarischen Vorlage, und dass die Figuren auf ihrer Odyssee auf der Suche nach Odyssee-Illustrationen sind, macht das Konzept zu einem mehrschichtigen Aneignungsprozess.
Es handelt sich um den zweiten Teil einer als Trilogie angelegten Reihe, deren Erstling (Les voyages d’Anna, 2005) in Deutschland noch gar nicht und deren dritter Teil im Mai diesen Jahres in Frankreich erschienen ist (Les voyages de Jules, 2019). Das Mittelstück dieser Voyages-Reihe, Die Fahrten des Odysseus, ist nun in Deutschland erschienen. Anna, die Geliebte des Malers Jules Toulet, ist die Figur aus dem ersten Teil der Serie, auch zu erkennen an dem Porträt, das Jules in dem vorliegenden Comic malt und das dem Cover der französischen Ausgabe von Les voyages d’Anna entspricht.
2017 wurde Lepage für Die Fahrten des Odysseus der Grand Prix de la Critique von der Association des critiques et des journalistes de bande dessinée (ACBD) verliehen. Keine schlechte Nachbarschaft, hatten doch zuletzt Emil Ferris (2019) und Gipi (2018), zuvor David Mazzucchelli (2011), Marc-Antoine Mathieu (2010) oder Chris Ware (2003) diesen Preis gewonnen. Inzwischen hat er mit Sophie Michel, mit der er zwei gemeinsame Kinder hat, als Ko-Szenaristin vier Comics veröffentlicht; auf Deutsch sind neben Die Fahrten des Odysseus auch Oh, diese Mädchen (2010) bei Splitter erschienen. Der erste Teil der Trilogie ist der gemeinsamen Tochter Anna gewidmet, dieser ihrem Sohn Ulysses – und dies ist das englische Pendant zu dem Namen Odysseus.
Vor dieser Zusammenarbeit hatte Lepage mit ihrem Bruder, Nicolas Michel, zwei Comics über Brasilien und Amerika (beide 2003) verfasst. Reisen und die Schönheit der Natur sind ein im Werk Lepages immer wiederkehrender Topos. Für seine Reise zum Kerguelen-Archipel (frz. 2011, dt. 2012) reiste er selbst an Bord eines französischen Forschungsschiffes an den Rand der Antarktis, um seinen Bildern Authentizität zu verleihen. Er wiederholte dies mit einer Reise ins Innere der Antarktis für Weiß wie der Mond (dt. 2015). Schiffsreisen haben es ihm offenbar angetan.
Die Zeichnungen, die Lepage und Michel dem fiktiven Antikenmaler Kasacz zuschreiben, stammen tatsächlich von dem belgischen Comiczeichner René Follet. Die Zeichnungen von Lepage sind grandios, und es ist eine gute Entscheidung gewesen, diesen so viel Raum zu geben und ihnen große Formate zu ermöglichen. Oft sind die Zeichnungen für Doppelseiten konzipiert, entsprechend muss man auch über die Seitengrenze hinweg lesen.
Es ist zu wünschen, dass auch die anderen Bände von Michel und Lepage ihren Weg auf den deutschen Markt finden.
Aufregende Fahrt in tiefen Gewässern
Splitter, 2019
Text: Sophie Michel, Emmanuel Lepage
Zeichnungen: Emmanuel Lepage, René Follet
Übersetzung: Harald Sachse
272 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 39,80 Euro
ISBN: 978-3962192990
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