In der Kolumne „Währenddessen …“ zeigt die Comicgate-Redaktion, was sie sich diese Woche so zu Gemüte geführt hat.
Christian: Viel zu spät habe ich mich letzte Woche an Bastian Vivès‘ Der Geschmack von Chlor herangewagt – immerhin ist das Buch schon 2010 bei Reprodukt erschienen. Aber zum Glück halten manche Verlage ihre Bücher eben doch länger im Programm, so dass auch Nachzügler noch die Chance auf eine Entdeckung haben – und das bevor der Künstler schon wieder abgemeldet auf dem Ramschhaufen liegt.
Der Geschmack von Chlor zeigt, wozu Comic – und nur Comic – fähig ist. Die Geschichte wäre in Prosa dröge. Schlimmer aber noch wäre die Geschichte in Form eines Films – und auch solche Filme gibt es reichlich. Das ist überraschend, weil Bastian Vivès seine Geschichte wie einen Film erzählt. Man kann sich plastisch vorstellen, wie die Geräuschkulisse in diesem Film – es müsste ein Kurzfilm sein – sich anhören würde, wie lange die Kamera in einer Einstellung oder auf einem Gesicht verharren würde, um die Gefühle so zu transportieren, wie es Vivès in seinem Buch tut. Bastian Vivès arbeitet mit harten Schnitten, auch das ein filmisches Element. Er erklärt nicht und verwendet wenige Worte. Er lässt die Zeit in einem einförmigen Takt voranschreiten, dass man sich das Ganze gut in 25 Einzelbilder pro Sekunde zerlegt vorstellen kann. Der Film würde Langsamkeit ähnlich zelebrieren, wie dies auch Vivès tut, aber es wäre quälend und würde sich anfühlen, als würde man Farbe beim Trocknen zusehen. Mit sympathischen Schauspielern wäre der Film vielleicht schön anzusehen, aber ein gewöhnliches Hallenbad wäre im Film immer nur ein gewöhnliches Hallenbad. Die Akustik in einem Hallenbad wäre wohl genauso unangenehm hallend repräsentiert wie sie eben ist – und die umwerfend schönen Standbilder des Comics wären durch den Zwang zur Bewegung im Film natürlich ebenfalls nicht möglich.
Es ist beeindruckend, wie Vivès eine kleine Geschichte um einen Mann und eine Frau, die gelegentlich im Hallenbad plaudern und sich dabei näher kommen, mit Spannung auflädt. Nach 100 Seiten hatte ich beim Lesen regelrecht das Gefühl, die Seiten würden zu brennen anfangen. Ich hatte das drängende Bedürfnis, schnell weiterzublättern, um die Auflösung der unangenehmen Situation zu erfahren, die Vivès konstruiert hatte; aber die wortlosen Panels zwangen mich zum aufmerksamen Betrachten und stellten sich gegen eine zu schnelle Lektüre.
Oberflächlich besehen hat Bastian Vivès mit Der Geschmack von Chlor eine Arbeit abgeliefert, die problemlos für Film oder Literatur adaptiert werden könnte. Aber die lebendige Linienführung, Vivès fantastisches Rhythmusgefühl und die Farben verleihen der Geschichte etwas, was über die Inhaltsebene hinausgeht. Vivès lässt Gefühle neu entstehen, die man lange vergessen oder verdrängt hatte. Das verleiht dem Comic einen eigenwilligen Zauber. Ein fantastischer Comic.
Die Comicgate-Rezension von 2010 findet man hier.
Niklas: Nach den simplen Anfängen, Marsianern und kleinen, schwarzen Büchlein wurde das nächste Kapitel der League of Extraordinary Gentlemen als Trilogie in drei Alben weitererzählt, in der unsere Helden immer wieder nach London zurückkehren. Dabei wurden das Altern, Veränderungen, Fortsetzungen und die Entwicklung der Fiktion vom 20sten bis zum 21sten Jahrhundert thematisiert. Das war sehr ambitioniert und seitdem ich die Serie 2010 anfing zu lesen, hat sich meine Meinung mehrmals genauso stark gewandelt wie das Londoner Stadtbild.
Der erste Band, League of Extraordinary Gentlemen Volume III: Century 1910, ließ Leser*innen nochmal in die „gute alte Zeit“ zurückkehren, nämlich die des Britischen Empires. Gut natürlich nur, weil sich da das Konzept der League noch frisch anfühlte und die hier vorgestellte League auch eine sympathische Truppe ist, von der ich gerne mehr gelesen hätte. Die Geschichte dreht sich aber auch um eine Nebenfigur, die Leser*innen verdeutlicht, wie erbärmlich das Leben als armer Mensch in jedem Jahrhundert ist, während unsere Heroen aus der Mittelklasse Wahnsinnige in aufregenden Kostümen vermöbelten und auf Reisen gingen. Erst kommt das Fressen, dann die Moral, hieß es schon in Berthold Brechts Dreigroschenoper, um die Moore dieses Mal seine Handlung aufbaut, und dabei scheinbar auch noch sein eigenes Magnum Opus From Hell dekonstruieren will.
Denn in dieser Geschichte taucht auch Jack the Ripper in der League-Welt auf – und auch, wenn er eine literarische Figur aus der Oper ist, ist sein Porträt wahrscheinlichste die realistischste Darstellung des Serienkillers aus Whitechapel. Da ist nichts Übernatürliches an ihm, keine dunklen Mächte befehligen ihn; er ist nur ein gewalttätiger Zuhälter, der Prostituierte ausnutzt und missbraucht. 1910 geht mit seiner Dekonstruktion des Heldenkonzepts weiter als die vorherigen Episoden und der Band ist damit sehr erfolgreich, selbst wenn in der größeren Handlung nichts weiter passiert, als ein paar Figuren und Themen vorzustellen. Die Geschichte ist eigentlich ziemlich unbedeutend für den Rest der Trilogie. Aber das ist dann wohl auch Absicht, wenn die Helden das wahre, das weniger glamouröse Böse vor der eigenen Haustür ignorieren. Eine Vergewaltigungsszene gibt es natürlich auch wieder, denn ohne die kann Moore ja nicht.
Ich hatte 1910 als den besten Band der Trilogie in Erinnerung doch ist meine Meinung seither etwas abgeflaut. Doch ich schätze sehr, dass er eine richtige Geschichte erzählt und die Dreigroschenoper angemessen adaptiert. Trotzdem hätte ich im Nachhinein viel lieber mehr Zeit mit dieser League verbracht. Denn die Dynamik zwischen Mina Murray, Allan Quartermain, A.J. Raffles und dem übersinnlichen Ermittler Thomas Carnacki stimmt, sie versprechen mir aufregende Abenteuer. Aber Abenteuer sind ja doof. Wenigstens ist Moores Prosa im Anhang jetzt lesenswerter geworden, weil er nicht mehr allzu schlimm mit Adjektiven um sich wirft.
Was habt ihr diese Woche gekauft, gesehen, gelesen, gespielt? Postet eure Bilder, Geschichten und Links einfach in die Kommentare.
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