Seit über dreißig Jahren gibt es im Großherzogtum Luxemburg eine Comic-Sensation, die im Ausland kaum bekannt ist. 250.000-mal haben sich die 29 zwischen 1988 und 2014 veröffentlichten Alben der Superjhemp-Serie verkauft. Rund 60.000 Zuschauer haben die Verfilmung gesehen, die letztes Jahr ins Kino kam. Das sind beachtliche Zahlen, wenn man bedenkt, dass das Land nur 600.000 Einwohner hat und – bei einem Ausländerteil von fast 50% – vielen die durchweg auf Luxemburgisch verfassten Geschichten nicht zugänglich sind.
Dem Erfolg des Comics geht nun eine Ausstellung des Centre national de littérature nach: „De Superjhemp ënnert dem Röntgenbléck“ (Superjhemp unter dem Röntgenblick). Das Luxemburger Literaturarchiv, das sich seit einigen Jahren auch als Comicarchiv versteht, kann dabei aus dem umfangreichen Nachlass des 2016 verstorbenen Zeichners Roger Leiner und dem Vorlass des Szenaristen Lucien Czuga schöpfen. Fünf prallgefüllte Räume warten auf Besucher, die die Reise ins knapp nördlich von Luxemburg-Stadt gelegene Mersch auf sich nehmen.
Nationalheld und Heldenparodie
Bereits vor dem Eingang des zum Archiv umfunktionierten Herrenhauses wird man von der Figur begrüßt, um die sich hier alles dreht: Auf den Seiten eines Kleinstwagens prangt das Abbild von Superjhemp, dem Superhelden mit Bierbauch, Schnauzer und Ballonmütze. Seit 1988 ist er, dessen Kostüm in den Farben der Landesflagge erstrahlt, Nationalheld und Heldenparodie zugleich. Seinen Namen verdankt er einer Koseform des geläufigen Vornamens Jean-Pierre.
In seinem bürgerlichen Leben heißt Superjhemp Charel Kuddel, arbeitet als Beamter im „Ministerium für ungelöste Probleme“, ist verheiratet und hat zwei, später drei Kinder. Seine hundsgewöhnliche Existenz hat es Czuga & Leiner von Anfang an ermöglicht, einen satirischen Blick auf die Vorlieben, Bräuche und das Selbstverständnis der Luxemburger zu werfen. Die jährlich erscheinenden Alben haben sich zudem stets auf aktuelle Ereignisse bezogen und so über drei Jahrzehnte gesellschaftspolitische Entwicklungen kommentiert und verspottet.
Als Superheld macht Superjhemp, der seine Kräfte aus dem Verzehr von Kochkäse gewinnt und selbst beim Fliegen die Hände in die Taschen steckt, eine denkbar schlechte Figur. Dennoch erfüllt er auch abseits seines Arbeitsplatzes eine staatstragende Funktion und rettet ein ums andere Mal das „Kleinherzogtum Luxusburg“, in dem der Comic spielt. Superjhemp tritt auf als Bewahrer einer Wohlstandsgesellschaft, die auf einer banken- und konzernfreundlichen Steuerpolitik fußt. Daneben beschützt er die Monarchie, die für Stabilität und Tradition im Kleinstaat steht.
Ein kurzer Abriss der Luxemburger Comicgeschichte
Es ist der Spagat aus einer selbstironisch-frechen Haltung und der Verteidigung des Status Quo, der für den Erfolg der Serie mitverantwortlich ist. In der Ausstellung begegnet einem dieser Umstand auf Schritt und Tritt. Nachdem man in der Vorhalle selbst auf der Decke von Superjhempen begrüßt wird, geht es allerdings erstmal in einen Raum, in dem man das „SJ“-Logo vergeblich sucht. „De Superjhemp ënnert dem Röntgenbléck“ ist die erste Comic-Ausstellung, die eine staatliche Einrichtung in Luxemburg organisiert. Es gibt also einiges nachzuholen.
Am Anfang steht daher ein Exkurs zur Geschichte des Comics im Großherzogtum. Sie bietet sich ähnlich dar wie in anderen europäischen Ländern, wenn auch mit der in Luxemburg oft beklagten Verspätung der kulturellen Entwicklung. Eine Zeitleiste veranschaulicht, wie der heimische Comic über Zeitungskarikaturen sowie Kinder- und Familienzeitschriften im 20. Jahrhundert langsam an Form gewinnt.
Für die Ausstellungsmacher bilden die 1980er einen Kristallisationspunkt. Nach langen Debatten über nationale Identität wird Luxemburgisch 1984 zur „Nationalsprache“ (Deutsch und Französisch bleiben „Amtssprachen“). Kurz darauf wagt sich eine Supermarktkette (!) an die Publikation eines ersten luxemburgischsprachigen Albums: die Übersetzung eines Astérix-Bandes. 15.000 Exemplare sind in Windeseile weg. Damit ist klar, dass es einen Markt für Comicbücher auf Luxemburgisch gibt, für weitere Übersetzungen (neben Astérix bald auch Tintin) ebenso wie für eigene Produktionen.
De Superjhemp wird geboren
Im zweiten Raum treten die Superjhemp-Schöpfer Lucien Czuga und Roger Leiner auf den Plan. Ihre erste Albumveröffentlichung von 1988 sei, so Claude D. Conter, Direktor des Archivs und Ko-Kurator, ein „Meilenstein“ des Comics in Luxemburg, dem die Ausstellung allerdings kein „Monument“ setzen wolle. Mit vielen Originalzeichnungen, Raritäten und bislang Unveröffentlichtem richtet sich „De Superjhemp ënnert dem Röntgenbléck“ natürlich an Comicfans, der wissenschaftliche Aspekt kommt entsprechend der Ausrichtung des Hauses jedoch nicht zu kurz.
Eine Zeitleiste ermöglicht wiederum, Czugas und Leiners Werdegang zu verfolgen. Der Werbetexter und der Illustrator waren beide bereits länger in der Luxemburger Comic-Szene aktiv, die insgesamt stark von der franko-belgischen Bande Dessinée beeinflusst war (und bis heute noch ist). Auch wenn man einige frühe Arbeiten Leiners bestaunen kann, die im Stil der amerikanischen Underground Comix gezeichnet sind, stehen die späteren Werke klar in der Tradition von Zeitschriften wie Spirou, Pilote und Fluide Glacial. Das stärkste Vorbild für Superjhemp selbst war (neben Superman) Gotlibs Superdupont, eine weitere Nationalheldenparodie.
Ganz nach franko-belgischem Muster wurde De Superjhemp géint de Bommeléer (Superjhemp gegen den Bombenleger) zuerst in einer Zeitschrift veröffentlicht, dem wöchentlichen Familienmagazin Revue. Im Rückblick erscheint es bemerkenswert, dass hier bereits alle Zutaten enthalten sind, die sich auch in den späteren Bänden finden. Konstant blieb auch die Arbeitsweise von Czuga & Leiner, die einer Ecke des Raums mittels Notizen, Skriptseiten und Skizzen präsentiert wird. Ungewöhnlich dürfte sein, dass, nachdem die beiden sich auf ein Konzept für einen Band geeinigt hatten, der Szenarist die Storyboards selbst zeichnete, bevor der eigentliche Zeichner die Arbeit übernahm.
Die „Luxusbürger“ und ihre Feinde
Das erste Album konnte eine besonders brisante Tagesaktualität aufgreifen, denn Luxemburg wurde Mitte der 80er Jahre von einer nie aufgeklärten Serie von Bombenanschlägen heimgesucht, die die populäre Imagination bis heute beflügelt. Hinter den Bomben steckt im Comic letztlich ein Versuch, den „Luxusburger“ Bankenplatz zu zerstören – ein wiederkehrendes Motiv. Gefahr droht dem „Kleinherzogtum“ nicht von Großmächten aus dem Osten oder Westen, sondern von anderen Steuerparadiesen, die sich hinter Namen wie „Dunkelvetien“ und „Monastein“ verbergen.
Auf diesen Aspekt geht der vierte Raum der Ausstellung näher ein, zuvor gibt der dritte Aufschluss über das Figureninventar der Serie. Ein Wandbild bietet einen Überblick über die weitläufige Familie Superjhemps. Ansonsten kann man im zweigeteilten Raum auf der einen Seite den Helden und seine Helfer, etwa den trotteligen Inspektor Schrobiltgen, und auf der anderen eine rogue gallery seiner Gegner – allen voran die Dauerbösewichte Jessica Jaguar und Filip von Filoux – genauer betrachten. Fragen zum Status des Superhelden spielen hier eine Rolle, aber auch die oft kritisierte sexistische Darstellung von Frauen.
Die Ausstellung hat sich für einen wohlwollenden, spielerischen Umgang mit willkürlicher Nacktheit und prallen Brüsten entschieden und nötigt Besucher dazu, durch ein überdimensioniertes Schlüsselloch zu blicken, wenn sie sich Charel Kuddels attraktive Sekretärin Joffer (Fräulein) Lamesch ansehen möchten. Kritischere Stimmen finden sich im Katalog, wo auch die in der Ausstellung selbst ausgesparten rassistischen Stereotype diskutiert werden. Zur Dekonstruktion und Demontage des Comics im Namen des sozialen Fortschritts fühlte sich angesichts dieser ersten Ausstellung aber offenbar niemand berufen.
„Der Comic der Juncker-Ära“
Im bereits erwähnten vierten Raum sind auf einer großen Landkarte die Handlungsorte des Comics verzeichnet, und auch ansonsten geht es hier um eine Kartierung der „Luxusburger“ Gesellschaft. Inwieweit „Luxusburg“ und Luxemburg deckungsgleich sind, möchte die Ausstellung nicht abschließend festlegen. Fest steht jedenfalls, dass „Luxusburg“ eine Gesellschaft des materiellen Überflusses und des sozialen Friedens ist, die diese aber immer wieder von außen bedroht sieht. Dabei geht der Comic mit der Zeit: Wo zu Beginn Nuklearkatastrophen und die Abschaffung des Bankgeheimnisses befürchtet werden, sind es in den letzten Bänden Neoliberalismus und Klimawandel.
In ihrem Gesellschaftsporträt haben Czuga & Leiner über viele Jahre auch Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Sport karikiert, die außerhalb des kleinen großherzoglichen Mikrokosmos nur selten prominent sind. Bekannt sein dürfte aber auf jeden Fall der demnächst scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der dem „Avant-Premier JCJ“ aus der Serie zum Verwechseln ähnlich sieht. Zwischen 1995 und 2013 war er Premierminister Luxemburgs, also fast so lange wie die Alben erschienen, weshalb Conter De Superjhemp auch als „Comic der Juncker-Ära“ bezeichnet. Kein anderes künstlerisches Projekt hat Luxemburg so lange begleitet.
Die Superjhemp-Franchise
Vom durchschlagenden und anhaltenden Erfolg der Kultfigur Superjhemp zeugt der letzte Ausstellungsraum. Hier sind unzählige Spin-offs und Fan-Artikel zu besichtigen. Zur Komik des Comics gehörte stets auch die Verfremdung von Markennamen (aus dem Kochkäse-Hersteller Luxlait [lait = fr. Milch] wird so etwa „Juxlait“). Die betroffenen Firmen haben ihrerseits gerne auf den Nationalhelden als Werbefigur zurückgegriffen und die veränderten Namen gleich mitübernommen. Eine Produktauswahl sieht man in einer Vitrine.
Einen besonderen Platz nimmt der Film De Superjhemp retörns ein, von dem Requisiten und Drehbuchentwürfe zu sehen sind. Die Ausstellung weiß allerdings auch von einem früheren Versuch einer Verfilmung aus den 1990ern zu berichten, die keine Finanzierung fand. Es brauchte wohl den Boom des Superheldenfilms im neuen Jahrtausend, damit auch der unwahrscheinliche Held mit der Ballonmütze den Sprung auf die Leinwand schaffte.
Mit De Superjhemp retörns ist die Figur übrigens wieder dort angelangt, wo sie in den 1980ern angefangen hatte: im Kontext einer Debatte über nationale Identität. Im Zuge diverser Steuer-Leaks und -Affären versucht Luxemburg seit einigen Jahren, sein Image aufzupolieren. Nach Ansicht einiger Kritiker rührt Superjhemp im Kino allzu bereitwillig die Werbetrommel für Staat und Nation.
Fazit
Am Ende der Ausstellung steht die Einsicht, dass, so sehr die Superjhemp-Saga der 29 Alben vorbei ist – Lucien Czuga möchte die Serie ohne Roger Leiner nicht fortsetzen –, die Figur auch in Zukunft immer dort eine Rolle spielen wird, wo es um das Selbstverständnis des Großherzogtums geht. Was in Frankreich Astérix und in den USA Captain America ist, ist und bleibt in Luxemburg – Superjhemp. Er ist der Zerrspiegel der Nation; an ihm wird verhandelt, was als typisch luxemburgisch gelten soll.
Der Röntgenblick, unter dem das Literaturarchiv Superjhemp präsentiert, lohnt sich, denn die Ausstellung verfügt über ein solides Konzept und eine klare Gestaltung der Räume. Einziger Wermutstropfen ist, dass man für kritische Zwischentöne fast zwangsläufig auf den Katalog angewiesen ist. Auch wenn die Ausstellung auf den ersten Blick eine überschaubare Größe besitzt, sollte man aufgrund ihrer Dichte zwei bis drei Stunden einplanen, wenn man etwas tiefer einsteigen möchte. Ein paar Vorkenntnisse zu Luxemburg sollte man dafür ebenfalls mitbringen (aufgrund der engen Verwandtschaft zum Deutschen dürften die Wandtexte verständlich sein).