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Miracleman – The Golden and the Silver Age (US)

30 Jahre Warten auf die Fortsetzung von Miracleman: Hat sich das Warten gelohnt?

Aus „Miracleman: The Silver Age Part 2“. Alle Abbildungen © Marvel Comics.

Dieser Tage wurde mit Miracleman #29 („The Silver Age Nr. 7“) eine Storyline abgeschlossen, die August 1993 mit Miracleman #24 in einem Cliffhanger geendet hatte und erst im Februar 2023 eine Fortsetzung erfuhr. 30 Jahre umfasst damit lediglich die Leerstelle, der Lesehunger nach neuem Material für Miracleman existiert noch deutlich länger.

Neil Gaimans Miracleman war von Anfang an, also seit #17, ein aufregendes Experiment, denn eigentlich gab es seit Alan Moores Abschied von der Serie doch gar nichts mehr zu erzählen: Die Superhelden hatten sich ihren Olymp errichtet, das Böse war besiegt, die Welt gerettet. Was sollte denn noch kommen? Eine neue, größere Bedrohung von außen wäre des einzigartigen Konzepts der Reihe nicht würdig gewesen. Also stattdessen Auflösungserscheinungen von innen? Vermutlich wird es so kommen.

The Golden Age

Zunächst aber ging Neil Gaiman einen ganz anderen Weg und konfrontiert uns Lesende mit der ultimativen „brave new world“ und der Fragestellung, was es mit Menschen macht, wenn alle Wünsche in Erfüllung gehen. Das ist die Königsdisziplin der SF: Spannung, die sich ohne mechanische Plots aus dem Worldbuilding selbst heraus entwickelt.

Miracleman Book 4 – The Golden Age, von Neil Gaiman und Mark Buckingham zwischen 1990 und 1992 gestaltet, ist weniger eine Storyline als eine Reflexion über das Leben im Paradies, wenn man dem geschenkten Frieden nicht trauen mag. Das este Kapitel „A prayer and hope“ (Miracleman #17) ist dafür der angemessene Auftakt: Vier Menschen wollen den Olymp besteigen, um Miracleman zu treffen. Sie finden sich in der Empfangshalle ein, lassen sich registrieren und gehen dann die Treppen nach oben. Und weiter. Und noch weiter. Immer neue Architekturen, Hallen, Ausstellungen lassen die Reise zu einer Erfahrung werden, als wäre die Besteigung des Mount Everest auf indoors gewendet, selbst eine Todeszone ist mitgedacht. Wer die Götter sehen will, muss Einsatz bringen. Am Ende treffen drei der vier Reisenden tatsächlich Miracleman, nun können sie ihr Anliegen vorbringen:

Aufstieg zum Sitz der Götter. Aus „Miracleman: The Golden Age Part 1“.

Der erste von ihnen versucht, den neuen Gott zu erschießen. Er hat die ganze Strapaze nur auf sich genommen, um zu beenden, was nicht sein sollte und trotzdem ist. Die zweite Reisende möchte von Miracleman das Talent verliehen bekommen, die Bilder aus ihrem Kopf in Kunst umsetzen zu können. Seit Miracleman die Welt beherrscht, darf jeder sein Leben führen, wie er will, jeder Wunsch wird erfüllt, und sollte es nicht möglich sein, wird wenigstens daran gearbeitet: „Yes, yes. I can“, sagt Miracleman der Frau, „You are correct; each of you should have the right to art. Yes. I will see what I can do.“ Der dritte aber möchte, dass Miracleman seine Tochter aus dem Koma erweckt, in dem sie liegt, seit Kid Miracleman London zerstört hat. Hier wiederum verweigert der melancholische Gott ohne weitere Begründung seine Hilfe.

Vielleicht ist die neue Menschheit doch wieder nur eine Spiegelung des neuen Gottes, geschaffen nach seinem Antlitz: Für Miracleman, so scheint es, sind Superkraft und Kunst etwas Selbstverständliches, was jedem zustehen sollte, während persönlicher Schmerz etwas ist, mit dem jeder allein fertig zu werden hat. In den Sandman-Comics sagt Death mit ähnlicher Indifferenz, „You get what anyone gets, you get a lifetime“, ohne einen einzigen Gedanken an die zeitliche Länge oder auch Qualität dieses Lebens zu verschwenden. Solche Götter kann man verehren. Man kann sie ebenso auch erschießen wollen, denn die göttliche Indifferenz ist schwer auszuhalten, wenn du dich am falschen Ende der Tafel findest und selbst im Paradies kein besonderes Stück vom Kuchen bekommst. Ein wiederkehrendes Thema bei Neil Gaiman: Es ist schwer, ein Gott zu sein, ja – aber schwerer ist es, einen Gott zu haben.

In weiteren Stories der Golden Age-Ära geht es darum, wie die Jugendlichen die neue Welt sehen. Johnny Bates, also Kid Miracleman, der in London Amok lief und dort neue Dimensionen des Sadismus erprobte, wird zum Symbol eines neuen Punk-Vibe. Die Eltern erzählen den Kindern, dass Johnny Bates der Teufel ist. Die Eltern erzählen auch, dass Sexulerziehung vor der Wende an Schulen verpönt war, was in Miraclemans Welt selbstredend kein Tabu mehr ist, im Gegenteil hat Sexualerziehung eine deutliche praktische Aufwertung erhalten, was nur noch einmal unterstreicht, wie rigoros Miracleman die alten Werte wegwischt: Chemie-Unterricht ist nicht ohne Experimente denkbar, Sprachunterricht nicht ohne Sprechen, wieso also sollte Sexualerziehung ohne Sex und Ficken stattfinden! Ist also nicht das, was die Eltern erzählen, sowieso irrelevant?

Kids of the new age. Aus „Miracleman: The Golden Age Part 2“.

Die Alten sind lost in der neuen Welt. Von einer radioaktiven Spinne gebissen zu werden und danach Superkräfte zu entwickeln, ist nicht unmöglich, aber höchst unwahrscheinlich, nahezu unmöglich – sagen die Eltern. Aber jetzt ist das Zeitalter der Wunder angebrochen und Wahrscheinlichkeiten erodieren: „One impossible thing makes other impossible things happen“ erklärt ein Mädchen ihren Freunden. Sie hat recht.

Neil Gaiman lotet aus, was mit ganz gewöhnlichen Menschen passiert, wenn sie dem Übermenschen auch nur begegnen oder gar göttlichen Sex mit Miraclewoman haben. Eine Rückkehr ins normale Erleben ist danach eigentlich nicht mehr möglich, jedenfalls nicht ohne theapeutisches Reden und Reflektieren. Das Zeitalter der Wunder ist angebrochen, und es ist für jeden einzelnen von Milliarden Menschen eine Überforderung. Davon handelt „The Golden Age“, es ist vielleicht Neil Gaimans Meisterwerk. Tatsächlich wurde „The Golden Age“ bereits 1992 beendet. Mit dem mit Spannung erwarteten Nachfolger „The Silver Age“ brachten Gaiman und Buckingham den Plot zurück in die Geschichte.

The Silver Age

Die Utopie, die Miracleman dank außerirdischer Technologie verwirklicht, betritt in jeder Hinsicht Neuland: Auch, wenn Miracleman sein eigenes Totenreich erschafft und mit kurioser Wissenschaft die Essenz von allem, das je gelebt hat, auffinden und konservieren kann. Irgendwo im unendlichen Gewebe des Universums findet sich die Information von allem und jedem, als handle es sich auch bei der menschlichen Seele um nicht anderes als einen genetischen Fingerabdruck. Und so rekonstruiert Miracleman seinen alten jugendlichen Sidekick Young Miracleman a.k.a. Dickie Dauntless.

Anders als Kid Miracleman bekam Dickie nie seine Chance in der realen Welt und starb, als sein Comic-Ich die erste Begegnung mit der realen Welt hatte (siehe „Träume in der Matrix“). Aber jetzt ist er wieder da – und was für ein Realitätsschock es für ihn ist: Das alte Fantasieengland seiner Jugend existiert nicht nur nicht mehr, es hat auch noch nie existiert, sondern war lediglich die virtuelle Matrix einer Simulation. Sein Jugendfreund Kid Miracleman ist ganz allein für eines der schlimmsten Verbrechen der Weltgeschichte verantwortlich und Miracleman hat die Welt in eine queere Wohlfühllandschaft umgebaut, in der jeder sein kann, was er will, was den eigenartigen Nebeneffekt hat, dass kaum ein Mensch weiß, was er eigentlich ist. Für eine Neil-Gaiman-Erzählung ist das ein erstaunlich konservativer Ansatz, trat der Autor doch bisher stets als progressiv und tolerant in alle Richtungen in Erscheinung. Aber ein Restunbehagen bleibt eben doch, wenn alle Wege offen stehen und gleichzeitig das Tradierte zerbröselt.

Ways to communicate. Aus „Miracleman: The Silver Age Part 2“

Zunächst erscheint Dickie Dauntless wie ein zartes Pflänzchen, wenn er allzu früh mit Video-Footage der London-Apokalypse konfrontiert wird („I saw a hundred children crushed together into a long pink worm, a head at each wet segment“), und doch drückt er die Albtraumbilder offensichtlich erfolgreich weg, nur um alsbald mit ganz anderen Verwirrungen konfrontiert zu werden: Sex ist in dieser neuen Welt eine völlig alltägliche Kommunikationsform, ähnlich wie gemeinsames Teetrinken; und dann gibt Miracleman seinem Jugendfreund einen zärtlich gemeinten, aber vertrauensbrüchig-übergriffigen Kuss auf den Mund in der irrigen Annahme, dass das, was Dicke fehlt, am Ende homosexuelle Liebe sein könnte. Dieser Liebesbeweis führt zum irreparablen Bruch: „I can’t believe you. That was horrible … unspeakable, beastly.“

Und so schwebt Young Miracleman davon, die Welt zu erforschen, ohne länger von Miracleman an der Hand genommen zu sein. Visionen des Teufels in Form von Kid Miracleman schleichen sich ihm ins Ohr, aber Dickie, der Arglose, entwickelt im Verlauf seiner Reise einen ganz eigenen Charakter, der sich noch oft am schalen Utopia der neuen Welt reiben wird, so auch in einer finalen Konfrontation zwischen Miracleman und Young Miracleman: „Is this the best you’ve got?“ wirft Dickie dem vermeintlich Allmächtigen entgegen, „You have no imagination, Miracleman. And you know what? This world sucks. And it sucks, because it’s a fucking utopia“. Der naiv, arglose Dickie entwickelt sich so recht schnell zu einer der wenigen Stimmen echter Menschlichkeit. Zumindest zu einer Stimme, die bei dem ignoranten, neuen Gott auch Gehör findet.

Mark Buckingham 1993 und heute

Vergleicht man die bei Marvel erschienenen Neuauflagen von „The Golden Age“ und „The Silver Age“, erkennt man gut die Entwicklung, die Mark Buckingham als Zeichner vollzogen hat. „The Golden Age“ ist experimentell angelegt, jedes Kapitel ist einerseits je in einem anderen Layout, anderseits auch in der Linienführung experimentierfreudig und nicht festegelegt. Als krassestes Beispiel kann hier sicherlich „Notes from the underground“ genannt werden, in dem der geklonte Andy Warhol sich an Visualisierungen des Miracleman-Mythos abarbeitet. Hier treffen Comicpanels auf Andy-Warhol-Bildcollagen, was vor allem deswegen gut funktioniert, weil auch die Farbgestaltung durchdacht ist. In Teilen wird hier auch die ausgesprochen hässliche Kolorierung der ersten Eclipse-Hefte noch einmal herangezogen, um daraus erfolgreich visuelles Kapital zu schlagen. Weitere herausragende Stilexperimente sind die Bilderbuch-Erzählung „Winter’s Tale“ sowie die im Stil von Jaime Hernandez gehaltene Story „Trends“ über Teenager in der Ära der Wunder. Auch die anderen Kapitel divergieren im Stil, so dass noch nicht absehbar ist, was tatsächlich Buckinghams charakteristische Handschrift ist.

Andy Warhol and Dr. Gargunza talk about Death. Aus „Miracleman: The Golden Age Part 3“

Für die Neuversion von „The Silver Age“ hat sich Buckingham eintschieden, die beiden ersten Kapitel noch einmal neu zu gestalten, um die komplette Storyline in einem stringenten Zeichenstil zu haben. Vergleicht man die beiden neuen Hefte mit den ersten Versionen von 1993, sieht man, wie stark sich der Künstler seither weiterentwickelt hat. Man hat in der Vertigo-Serie „Fables“ gut miterleben können, wie Buckingham irgendwann damit anfing, erste Panelfolgen im Querformat über zwei Seiten hinweg auszubreiten. Das verschafft der Darstellung bisweilen ein gewisses Breitwandflair, dürfte aber vor allem für Sammler von Originalseiten interessant sein, denn so bekommen auch „gewöhnliche“ Comicseiten mit Einzelpanels die Anmutung eines Spreadpages. Vom Erzählfluss her nehmen sich die alte und die neue Darstellungsform nicht viel, aber bisweilen vermisse ich die Sprödheit der alten Version. Es macht Spaß, die alte Nummer 24 von 1993 mit der Neuversion von 2022 zu vergleichen. Der gleiche Text vom gleichen Künstler in zwei sehr unterschiedlichen Stilen gestaltet. Das findet man nicht so oft.

The Dark Age

Und so hat auch Mark Buckingham die zeitliche Lücke von 30 Jahren souverän überbrückt, indem er nicht seinen jetzigen Stil einer 30 Jahre zurückliegenden Arbeit anpasst, sondern stattdessen das Alte abstreift und noch einmal neu einkleidet. Das Ergebnis kann sich mehr als sehen lassen, und sein Breitwandstil, der bei Fables über die Jahre doch sehr routiniert geworden ist, wirkt bei Miracleman noch einmal frisch und neu. Man merkt, wie auch Mark Buckingham für diese Serie brennt.

Das Eingangspanel nochmal, diesmal aus der Urversion von 1993, damals noch bei Eclipse.

Mit dem letzten vorliegenden Heft treten wir nun aber zum ersten Mal komplett ins Unbekannte, denn hier verspricht ein finaler Cliffhanger, was auch in den 90ern schon angedeutet wurde: Auf „The Silver Age“ wird „The Dark Age“ folgen, der finale Konflikt zwischen Miracleman und Young Miracleman bahnt sich an. Bedenkt man, wie lange die Flamme unserer Erwartungshaltung nun schon brennt, bleibt zu befürchten, dass es von jetzt an eher zu schnell vorbei sein wird.

Angesichts dessen, dass die Realität die letzten 30 Jahre Zeit bekam, Neil Gaimans visionären Ansatz in mehr als einem Aspekt zu bestätigen, war es dennoch goldrichtig, dass es nicht schon Mitte der 90er vorbei war. Man kann Neil und Mark für ihren langen Atem nur bewundern und dankbar sein. Und auch bei Marvel hat man sich mit dieser Ausgabe als würdiger Verleger erwiesen.

Neil Gaimans Lebenswerk. Seit den 1980ern arbeitet er schon daran.

10von10Miracleman 17–29
Marvel, 2015 – 2024
Text: Neil Gaiman
Zeichnungen: Mark Buckingham
Seitenzahlen variabel, Farbe
Preis: je 4,99 Dollar

 

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