„Ei, Großmutter, was hast du für große Hände?“ — „Dass ich dich besser packen kann.“ — „Aber, Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul?“ — „Dass ich dich besser fressen kann.“ Jeder kennt das Märchen der Brüder Grimm von Rotkäppchen und dem bösen Wolf, und vieles spricht dafür, dass diese archetypische Konstellation quasi Grundbaustein der menschlichen Verfasstheit ist. Nun erschien bei Chinabooks eine Sammlung märchenhafter Geschichten, die diese Annahme bestätigt.
Da klopft die Tigerin an die Tür dreier Kinder und ruft: „Kinderlein, macht die Tür auf.“ – „Ist Oma schon zurück?“ fragt eines der Kinder. Irgendwas stimmt nicht: „Zeig uns erst deine Hände“, fordern die Kinder, worauf die Tigerin ihre Pranke durch den Spalt schiebt. „Unsere Oma hat keine so großen Hände“, sagen sie, aber die Tigerin erwidert schlau: „Aber Enkelchen, hast du etwa die Handschuhe vergessen, die du Omi geschenkt hast?“ Die Kinder lassen nicht locker: „Sie hat auch keinen Schwanz“, stellen sie fest, darauf die Tigerin: „Ach meine Kleine, das ist bloß das Seil, das sich Oma umgebunden hat, um ihren Rock zu halten.“ Kurz und gut, die Tigerin ist den Kindern über und am Ende lassen die Kinder sie ins Haus; und weil es draußen schneit, legen sie sich bald zu viert gemeinsam unter die wärmende Bettdecke. Als nun aber die Tigerin das erste Kind verschlingen will, wendet der Junge sich selbstbewusst gegen sie: „Halt. Friss nicht mich! Ich schmecke grässlich! Sieh doch, an mir ist nichts dran! Bloß Haut und Knochen, das ist schlecht für die Zähne.“
Und so verwickeln die Kinder die Tigerin erst in ein Gespräch und drehen dann den Spieß um, was vor allem daran liegt, dass einer von ihnen in Wirklichkeit A-Huang ist, ein magischer Gestaltwandler, der gerne als Wieseljunge auftritt. Als die falsche Oma dessen buschigen Wieselschwanz sieht, fragt sie, „He, was ist das für ein Schwanz?“, worauf der Junge sagt, „Ach, das ist gar nichts! Bloß eine Spülbürste für den Abwasch.“ Und so gelingt es, die Tigerin mehr und mehr unter Kontrolle zu bringen, bis sie in eine Falle tappt und dem Herrn Pflaume in die Hände fällt, einem weiteren Feenwesen, das gerne in Form einer Grünnatter in Erscheinung tritt. Da ist es schon um die Tigerin geschehen. Sie landet im Kochtopf und kann nur noch darum bitten, dass sie nach dem Kochen nicht auch noch frittiert wird.
So endet die Geschichte mit der Tigerin und den Feen-Fünf, dank der Parallelen zum deutsch-französischen Märchenschatz sicher die zugänglichste der sechs Geschichten aus Dao – Der Weg, aber doch so fremd und exotisch, dass man verunsichert vor und zurückblättert, um auch ja sämtliche Nuancen der Geschichte zu erfassen. Es dürfte kaum möglich sein.
Der Name der Künstlerin Cai Mogu De Sima Gonggong ist auch im Chinesischen nicht alltäglich, er bedeutet „Das Pilze sammelnde Großväterchen Sima“. Die Künstlerin greift die Tradition der chinesischen Tuschemalerei auf und wendet sie ins Moderne. Ebenso spielt sie mit klassischen Erzählmotiven, die bei westlichen Lesern sicher für Fragezeichen sorgen werden. Zu wenig wissen wir über die angerissenenen Märchenmotive oder die teils historischen, teils mythischen Rahmenmotive. Wie nachvollziehbar erscheinen uns dagegen die grimmschen Märchen, obwohl auch diese doch bersten von Motiven, die eigentlich nicht zu verstehen sind: Ein Wolf kann keine Oma fressen und sich dann als eben diese ausgeben, ebensowenig lassen sich die soeben gefressenen sieben Geislein aus dem Magen eines Wolfs retten, um nur mal die offensichtlichsten Bilder aufzurufen – und doch fragt sich hierzulande keiner, was das soll. Es gehört einfach zu unserer DNA.
Also nähern wir uns voller Ehrfurcht den Geschichten aus Dao – Der Weg und fühlen mehr als dass wir begreifen, was hier vor sich geht. Die Motive, die wir visuell zu sehen bekommen, sind beeindruckend genug, uns nachhaltig zu faszinieren. Die riesige Ratte, die den armen Bauern zur Seite springt und den gierigen Beamten in die Schranken weist; der Wieseljunge, der einem Betrunkenen zur Seite springt, als dieser wegen eines auf seinen Schultern sitzenden Dämons zielstrebig in einen Abgrund zu fallen droht; hier passieren viele bildgewaltige Dinge, doch obwohl die Geschichten kurz und schlicht daherkommen, sind sie eine Herausforderung. Im Grunde bräuchten wir Begleitmaterial zur Lektüre – aber könnte man damit kompensieren, was man seit Kindesbeinen verpasst hat?
Für uns westliche Leser war es vor allem Neil Gaiman, der uns immer wieder an die Hand genommen und innerhalb seines Sandman-Traumkosmos mit Mythen außerhalb unserer Erfahrungswelt konfrontiert hat, am extremsten vermutlich mit „The Dream Hunters“, wo Gaiman uns japanische Märchenfiguren näher vorstellt. (Man verzeihe mir, dass ich chinesisch und japanisch hier gleichsetze, beides erscheint mir aus westlicher Perspektive ähnlich exotisch.) Im Nachhinein fällt auf, wie sehr wir doch auf Gaiman als Mittler angewiesen waren, der uns mit dem Fremden vertraut machte, uns aber doch nicht allzusehr von vertrauten dramaturgischen Gepflogenheiten wegführte. Dao – Der Weg müssen wir uns dagegen auf eigene Faust erschließen. Es lohnt sich, sich den Weg ein Stück weit alleine zu wagen.
Diesen Weg gehen wir gerne ein Stück mit.
Chinabooks, 2024
Text und Zeichnungen: Cai Mogu De Sima Gonggong
Übersetzung: Johannes Fiederling
224 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 24,90 Euro
ISBN: 978-3038870142
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