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Spirou & Fantasio Gesamtausgabe – Band 9

Drei lange Abenteuer von Spirou und Fantasio, fünf Kurzcomics und wiederum ein üppiges Vorwort: Die Spirou und Fantasio-Gesamtausgabe lässt jetzt auch in Deutschland Altmeister Franquin hinter sich und erzählt von geheimnisvollen Komplotten an malerisch gruseligen Orten (und das zum Teil sogar noch mit Marsupilami).

Alle Abbildungen © Carlsen Verlag

Es war die spektakulärste Staffelübergabe im europäischen Comic, bis Uderzo sich von Asterix verabschiedete: Im schicksalsträchtigen Jahr 1969 warf André Franquin nach 20 Jahren, Hunderten von ihm erfundenen Figuren und diversen von ihm erfundenen Ländern und Maschinen (und einem Marsupilami) als Szenarist und Zeichner von Spirou und Fantasio das Handtuch. Auf sein Drängen hin wurde das einstige erste Haus am Platz dem 19-jährigen Bretonen Jean-Claude Fournier anvertraut, einem progressiv ausgerichteten Superfan mit einer Schwäche für Politik und Mystik. Franquin, der die Serie einst im gleichen Alter von Jije übernommen und die Umbruchsstimmung internalisiert hatte wie kaum ein anderer Zeichner, erwartete von Fournier nach eigenen Angaben eine zeitgemäße Neuerfindung des etwas in die Jahre gekommenen Abenteuerfunnys. Er begriff nicht, dass er selber dafür gesorgt hatte, dass es keinen zweiten Neubegründer wie ihn bei der mittlerweile legendären Serie geben konnte. Zerrieben zwischen den nicht zuletzt kommerziellen Erwartungen des Verlags und seinen eigenen widerstreitenden Ansprüchen als Franquin-Schüler und sperriger eigener Kopf machte Fournier aus der modernistischen Wundertüte von Spirou und Fantasio nicht mehr und nicht weniger als den Leuchtturm in der goldenen Ära der europäischen Kindercomics. Und das sogar in Deutschland.

Erwachsene, häufig akademische Kritiker schrieben auch in Deutschland die ersten Hymnen auf Asterix und Lucky Luke (und auf die Peanuts und Little Nemo) und spielten diese Serien gegen den vermuteten konservativen Quatsch der deutschen Comiczeitschrift Fix und Foxi aus. Wir Kinder der 1970er aber bemerkten, ohne die Namen, Verbindungen und Ahnenfolgen hinter den Bildergeschichten zu kennen, dass die Comics und Bastelseiten im damaligen Fix und Foxi (die zu Hunderten die Flohmärkte fluteten) den gleichen Geist atmeten wie die großen Serien Goscinnys, nur dabei – zum Glück – ein klein wenig alberner, utopischer und umgekehrt weniger intellektuell waren. Der nicht zu Unrecht als rechtslastig verschriene Kauka Verlag übersetzte nämlich für Fix und Foxi aus dem Spirou-Magazin nicht nur Dutzende von Comicserien, sondern auch Hunderte von Bastelbögen, Witzseiten und redaktionelle Texte, alles entstanden unter der Ägide des umtriebigen hippiesken Spirou-Chefredakteurs Yvan Delporte, u.a. dem besten Texter der Schlümpfe. Ohne, dass Kauka bei der Übersetzung irgendwie den ursprünglichen Sonderstatus der Serie Spirou als Flagschiff im Heimatland erahnen ließ, waren Pit und Pikkolo, so der deutsche Titel, von Fournier für Leser immer die sichere Bank, der gute Mittelweg zwischen Zauber und Satire, Abenteuer und Gags.

Die Wirkungen des damaligen Spirou-Gesamtpakets (so viel verwirrender und abwechslungsreicher als die Disney-Comics) auf unsere Psyche lässt sich kaum überschätzen, und Fourniers Spirou-Abenteuer selber mit ihren Apfelwein trinkenden Außerirdischen, depperten Zauberern, bedrohlichen Diktatoren (die damals bei Fix und Foxi allerdings tendenziell unterschlagen wurden) und ihren vielen Tierszenen waren der Goldstandard des Erzählens. Die 1970er waren hin- und hergerissen zwischen einer neuentdeckten, durchaus bitteren Düsterkeit und einer selbstverständlich gewordenen hippen Fortschrittlichkeit, und dazwischen bildeten sich die ersten Ansätze der späteren Alternativkultur. Für den Bereich des Comics hieß das: viel Horror, viele Schlümpfe und eine Menge verspielter Querschläger wie Isabelle.

Auch Fournier stand in späteren Alben mit beiden Beinen in diesen Entwicklungen. Seine Anfänge bei Spirou sind in mehrerer Hinsicht bescheidener: die hier versammelten langen Abenteuer handeln im Grunde alle davon, dass entweder der Graf von Rummelsdorf oder sein japanischer Kollege Itoh Kata (eine Figur Fourniers) mit neuen Entdeckungen oder Erfindungen prahlen und damit gewollt und ungewollt in jeder Hinsicht charakterlose Spione anlocken, die sie verfolgen, entführen oder entführen wollen und dabei an Spirou und Fantasio geraten, die sich mit den Spionen mehr oder weniger interessante Verfolgungsjagden und Kämpfe um die bedrohten Erfinder/Zauberer und ihre Schätze liefern. Diese Geschichten sind geprägt von einem recht zähen Hin und Her, wirken episodenhaft und reichlich beliebig, aber gewinnen interessanterweise durch das Bingereading im Sammelband. Besser sind die enthaltenen kürzeren Geschichten, solange sie sich nicht auch um depperte Spione drehen, sondern um das abenteuerliche Weihnachten eines gelangweilten reichen Jungen und die berechtigten Frustrationen von Eichhörnchen Pips.

Fourniers Spirou ist zeitgemäß dunkler als der von Franquin, mehr Tusche, Herbstfarben, viel mehr Nachtszenen, geheime Gänge und Verliese. Die Panels sind häufig niedrig und breit, wie ein Comic in Cinemascope, das Layout orientiert sich mit dem Grundmuster von 4-mal-2-Panels an der letzten Geschichte Franquins. Die beiden Helden wirken eher aufrecht und gestresst als energiegeladen (und Spirou wechselt hier von der Pagenuniform größtenteils zum bekannten weißen Rolli), der Humor wird an Pips und diverse Gaststars delegiert. Alles ist eine Ecke fusseliger, heruntergekommener, weniger strahlend als zu Franquins Glanzzeiten. Fourniers eindrücklichste Ergänzung zum Spirou-Kosmos ist der ständig grundlos gutgelaunte japanische Zauberer Itoh Kata, eine aus heutiger Sicht sicher etwas problematische Figur, von Fournier aber deutlich als Beginn einer neuen Diversität gemeint. Eine etwas schmierige, selbstverständliche und gleichzeitig dezente Sexualisierung hält Einzug, Fantasio darf/muss mit unklaren Absichten erfolglos diversen Frauen hinterherhecheln. Eine anderer Schritt in Richtung James Bond und frei flottierende 7oer-Paranoia ist Fourniers Spionageorganisation „Triangel“, ein wenig ausgereifter Mix aus bösem Geheimdienst und organisiertem Verbrechen, dessen reichlich farblose Mitglieder meist nur durch ihre Nummern in der Hierarchie der Organisation ausgewiesen werden (und eigentlich keine würdigen Gegner für Spirou und Fantasio sind, weswegen sie später auch immer mit dankbareren Schurken gekoppelt werden).

Erst in den folgenden Abenteuern findet Fournier seinen Stil und seine Stimme und erarbeitet sich hart eine Reihe eigener Meisterwerke im Rahmen der Serie. Doch gerade in seiner Unfertigkeit vermittelt Nummer 9 der Gesamtausgabe ohne große Worte einen nachhaltigen Eindruck von der aufgewühlten Entstehungszeit. Er bietet sozusagen die Methode Fournier noch ohne eindrucksvolles Werk und ganz verstrickt in den Zeitgeist, und das ist nicht nur von historischem Interesse. Denn auch wenn Fourniers frühe Abenteuer Leerlauf und Längen aufweisen (und einen Zyklotrop, der wie eine Witzblattfigur aussieht, sowie ein von Franquin gezeichnetes Marsupilami, das tatsächlich, wie der Altmeister moniert hat, ziemlich verschenkt ist), so bieten sie genug zum Gucken und Schwelgen, gerade in der Zusammenschau. Über 150 Seiten abenteuert und menschelt es bunt, lässig und heimelig vor sich hin. Und vermutlich hat Fournier bei unglaublich starker Konkurrenz einfach doch den besten Pips hingekriegt.

Schwache Abenteuer, wunderbare Details und ein Fest für Nostalgiker: Fourniers erste Gehversuche mit Spirou und Fantasio

Spirou & Fantasio Gesamtausgabe 9: 1969-1972
Carlsen, 2018
Text und Zeichnungen: Jean-Claude Fournier
Übersetzung: Peter Müller (Comic), Michael Hein (redaktionelle Seiten)
240 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 30 Euro
ISBN: 978-3-551-71629-3
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