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Nenn mich Kai

Wie schön ist es, in einem offenen, toleranten Land zu leben, in dem man Homosexualität und Transsexualität problemlos zur Sprache bringen kann. Dass es aber immer noch nicht leicht ist, den ersten Schritt aus dem Wandschrank zu wagen (sprich: sich zu „outen“), das thematisiert Sarah Barczyk in ihrer charmanten kleinen Erzählung Nenn mich Kai, in der es um eine junge Frau namens Andrea geht, die sich als Mann fühlt. Ironischerweise hätten ihre Eltern kein Problem damit, wäre sie homosexuell. Jetzt, da Homosexualität weitgehend mainstreamtauglich geworden ist, stellt sich heraus, dass es sich bei Transsexualität also tatsächlich noch einmal um ein anderes Kaliber handelt. Was aber macht es so schwer, das eine zu akzeptieren, das andere aber nicht?

Cover 2

Alle Abbildungen: © Egmont Graphic Novel / Sarah Barczyk

Ich möchte die unzähligen Hürden, die der praktizierende Homosexuelle auch im 21. Jahrhundert noch nehmen muss, nicht herunterspielen geschweige denn banalisieren. Im Grunde handelt es sich bei Homosexualität aber heutzutage schon um eine Lebensform, die man – wagt man denn den Schritt – leben kann, im Idealfall mit dem Segen seiner Angehörigen, oft genug leider auch nicht. Transsexualität, samt der im Comic angerissenen Option der Therapie und Operation, ist anders. Hier klingt etwas Futuristisches durch. Aber liegt es nicht auch in der Natur des Menschen, die Härten des Lebens und der Natur mithilfe moderner Technik zu überwinden? Sollte man also nicht auch denen, die sich im falschen Körper fühlen, ein erfülltes Leben ermöglichen können? Es geht ja nicht nur um Sex. Es geht ganz umfassend um die Identität.

ElternOder handelt es sich zuletzt um ein semantisches Problem? Gerade die Szene, in der sich Andrea/Kai entscheiden muss, in welche Umkleide er/sie gehen möchte – der vielleicht derzeit am meisten diskutierte Komplex der Transgender-Thematik –, macht doch deutlich, dass es ein Problem ist, sich richtig einzugruppieren. Ist das Skalpell wirklich die einzige Chance, oder ist das nur die letzte Konsequenz einer Gesellschaft, die ohne Schubladen nicht funktionieren kann? Ich möchte aber daraus nicht die Schlussfolgerung ableiten, dass es sich bei Identitätsfragen nur um eine Angelegenheit der Einstellung handelt, denn das ist eine Straße, die man besser nicht betreten sollte. Transsexualität ist ja auch kein „modernes“ Problem – und im Gegensatz zu heute war Frauen in vergangenen Jahrhunderten das Tragen von Männerkleidung bei Todesstrafe verboten. Sie hätten sich ja Privilegien erschleichen können.

Letztendlich ist Toleranz aber nur der erste Schritt in Richtung einer Utopie. Der zweite Schritt wäre, die Toleranz unnötig zu machen, so dass jede noch so diverse Abweichung sich gleichwohl im Mainstream auflöst. Die Sehnsucht nach einem unbefangenen Dasein ist es, die sich ebenfalls im Dilemma, welche Umkleide bzw. Toilette man wählt, am deutlichsten artikuliert. Das Problem dabei: Toleranz ist etwas, was die Mainstream-Gesellschaft schenkt und wovon jede abweichende Minderheit abhängig ist. Diese Abhängigkeit aber ist immer noch diskriminierend, egal, wie wohlmeinend eine tolerante Person ist. Man will aber nicht auf Toleranz und Milde angewiesen sein – und trotzdem anders sein dürfen.

UmkleideEin heikles Thema. Da tut es gut, dass Sarah Barczyk ihren Kai in einer so einnehmenden Weise darstellt. Bei Kais kulleräugigem Charme wirft man alle Bedenken und Vorurteile, die man vielleicht irgendwo noch hegt, schnell über Bord und wünscht sich, dass dieser gequälten Seele bald ihre Wünsche und Sehnsüchte in Erfüllung  gehen. Auch wenn Sarah Barczyks erste „Graphic Novel“ dramatisch eher unspektakulär wirkt, so ist es doch ein wertvoller Aufklärungscomic, den man gerne liest. Nur die Unbefangenheit, mit der die Umoperation zum anderen Geschlecht als recht normaler, vielleicht sogar zwangsläufiger Eingriff in den Raum gestellt wird, die befremdet dann doch.

Sarah Barczyk ist ein sympathischer und zugänglicher, leider aber auch etwas oberflächlicher Comic zum Thema Transsexualität gelungen.

7von10Nenn mich Kai
Egmont Graphic Novel, 2016
Text und Zeichnungen: Sarah Barczyk
80 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 14,99 Euro
ISBN: 978-3770455294
Leseprobe

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