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Auf der Suche nach Moby Dick

Wenn von ‚unendlichen Weiten‘ die Rede ist, ist aller Regel nach das Weltall gemeint. Vor 150 Jahren jedoch war das Fremde und Unbekannte noch auf dem Grund des Meeresbodens zu Hause. Nicht Wissenschaftler oder Soldaten waren es, die es mit den Monstern der Tiefsee aufnahmen, es waren so gottesfürchtige wie abergläubische Arbeitertypen. Malocher, vor Gott alle gleich, die sich hinauswagten, riesige Wale mit primitiven Harpunen zu Tode zu hetzen und abzuschlachten. Eigentlich ein Wahnsinn. These were the hands that built America.

Alle Abbildungen © Knesebeck-Verlag

Herman Melville war ein Zeitzeuge der drohenden Ausrottung der amerikanischen Büffel durch die amerikanischen Siedler, hatte also bereits einen ersten Eindruck der globalen Auswirkung menschlicher Handlungen. Dennoch hielt er es nicht für möglich, dass Wale jemals den gleichen Weg der Auslöschung beschreiten würden, und dachte, die enorme Größe des Ozeans würde diese Riesen schon schützen. Der Ozean war die unendliche Weite in Melvilles Denken. Was sollte der Landmensch, der lediglich ängstlich mit klapprigen Schiffen an der Oberfläche herumfahren kann, ohne auch nur annähernd die Dimension des Meers zu erfassen, schon anrichten? Was Melville nicht ahnte: Sehr viel.

Auf der Suche nach Moby Dick heißt die neueste Comic-Adaption von Herman Melvilles Roman-Klassiker. Anders als die meisten bisherigen Comicversionen geben sich Isaac Wens (Zeichnungen) und Sylvain Venyre (Autor) nicht mit der Nacherzählung des Plots zufrieden. Sie wollen Melville auf umfassendere Weise gerecht werden. Einen ähnlichen Ansatz kennt man bisher nur von Bill Sienkiewicz‘ und Dan Chichesters Version von 1990, doch hatten diese beiden vor lauter Ambition vergessen, eine spannende Geschichte zu erzählen, und verließen sich zu sehr auf Sienkiewicz‘ kühne Maltechnik, der damals auf dem Gipfel seiner Schaffenskraft war. Die Version bedarf – so viel möchte ich trotz ihrer erzählerischen Defizite anmerken – dringend einer überformatigen Neuveröffentlichung, die endlich den Bildern gerecht wird.

Venayre und Wens dagegen haben das Erzählen nicht vergessen und betten die Geschichte in eine eigens dazu erfundene Rahmenhandlung ein, in der ein junger Reporter sich für ein Radiofeature mit Moby-Dick-Scholars und Laienschauspielern in Nantucket trifft, dem Ort, der im 19. Jahrhundert ein wichtiger Walfängerhafen war und von dem Captain Ahab mit der Pequod zu seiner schicksalhaften Reise aufbrach.

Wer ist das grausamste Tier?

Diese Szenen aus der Gegenwart haben etwas Gewollt-Belehrendes und wecken Erinnerungen an Étienne Davodeaus Die Ignoranten, in der ein Weinkenner und ein Comicexperte sich gegenseitig von ihren Leidenschaften erzählen. Aber auch Wens und Venayre belehren natürlich nicht nur, sondern erzählen die komplette Story. Die eingestreuten Zwischenszenen, in denen beispielsweise über Textpassagen geplaudert wird, die es nicht in die endgültige Fassung geschafft haben, haben dabei eine ähnliche Wirkung wie Fußnoten und Anmerkungen, wie man sie etwa von Leslie S. Klingers kommentierten Neuausgaben von Prosaklassikern wie Dracula, Sherlock Holmes, den Sandman-Comics und ausgewählten Lovecraft-Erzählungen her kennt. (Klingers ausufernder, bisweilen literarisch ambitionierter Kommentarstil, der immer wieder von der Prämisse augeht, dass es sich bei den Romanen, egal wie fantastisch sie sein mögen, um Tatsachenberichte handelt, ist ebenso schwelgerisch wie maßlos.) Und bisweilen erinnern Sylvain Venayres Exkurse auch an Hugo Pratts Corto-Maltese-Geschichten. Wie bei Pratt schwelgen die Figuren in der Kulturgeschichte und verlieren sich bisweilen in Esoterik. Anstelle Pratts poetischer Linie gestaltet Isaac Wens jedoch mit unruhigem Stift, der vorsichtig strichelt, wo Pratt stets genau weiß, wieviel er zeigen will.

Hohe Schraffurdichte. Viel Licht und Schatten.

Dennoch überzeugt Isaac Wens Grafik. Sehr effektiv wechselt die Darstellung zwischen Minimalismus und fast fiebriger Strichdichte. Gerade bei den Tieren der Meere, egal ob Haie oder der riesige Wal, reicht ihm oft ein Minimum an Linien, während in der Enge und Dunkelheit unter Deck die Linien nicht gezählt werden können und jedes Maß und Richtung verlieren. Kein Zweifel: In der Weite der Natur, des Ozeans und des Himmels herrscht aufgeräumte Klarheit. Die Orte der Zivilisation und der menschlichen Umtriebe dagegen sind voll ungesunder Fiebrigkeit und Unruhe.

The Annotated Moby Dick als Comic. Gelungene Literatur-Adaption.

8von10Auf der Suche nach Moby Dick
Knesebeck, 2020
Text: Sylvain Venayre
Zeichnungen: Isaac Wens
Übersetzung: Anja Kootz
224 Seiten, Farbe, Hardcover
Preis: 28,00 Euro
ISBN: 978-3-95728-440-2
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