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American Jesus 1

Unsere Autoren Gerrit Lungershausen und Christian Muschweck haben mal wieder zugeschlagen. Diesmal haben sie sich den ersten Band von American Jesus (Mark Millar und Peter Gross) ganz genau angesehen.

Alle Abbildungen © Panini Verlag

Christian: Okay, lass uns über American Jesus von Mark Millar und Peter Gross reden. In der Story geht es um den zwölfjährigen Jodie Christianson (JC), der einen völlig unmöglichen Unfall mit einem Truck überlebt und danach erfährt, dass er der wiedergeborene Jesus Christus ist. Bald stellt er fest, dass er außerordentliche Gaben besitzt. Auf einmal kann Jodie, der bisher keine Leuchte in der Schule war, Wissen abrufen, das er nie gelernt hat. Bald kann er das ganze biblische Programm abspulen: Heilen, Wasser in Wein verwandeln und so weiter. Das ganze macht mich vor allem deswegen stutzig, weil der Autor dieser Heilsgeschichte, die im schönsten Stephen-King-Stil erzählt wird, Mark Millar ist. Denn Millar ist ein Schaumschläger vor dem Herren. Er hat ja schon damals bei Kick Ass hoch und heilig versprochen, er wolle von realistischen Superhelden in einer realen Welt erzählen, und dann war Kick Ass so comichaft und überdreht wie nur was. Von daher traue ich seiner christlich-fundamentalistischen Prämisse nicht über den Weg. Wenn er nun für sein erstes American-Jesus-Paperback gleich zwei katholische Ordensbrüder je ein Nachwort schreiben lässt (in der Panini-Übersetzung ist davon nur eines übrig geblieben), dann sehe ich darin sofort einen Bluff. Bin ich zu misstrauisch, Gerrit? Millar betont zudem sehr, sehr deutlich seine eigene Verbundenheit zu der bodenständigen katholischen Kirchengemeinde aus seiner Jugend. Da ist doch was im Busch, oder?

Jodie steht schon halb im Schatten des auf ihn stürzenden Trucks. Man kann sich streiten, ob dies seine Origin Story ist – oder nur der Beginn seines Coming Outs.

„Secret Identity“ (DC Comics)

Gerrit: Ich bin mit Millars Werk nicht besonders vertraut, wahrscheinlich zu Unrecht, weil ich mich sowohl bei Chrononauts als auch bei Kick-Ass gelangweilt und dann die prominenten Titel der “Millarworld” einfach ignoriert habe. Mich interessiert die Grundidee von American Jesus. Weil die Rückführung des Konzepts der Superhelden auf die Heroen der griechischen Antike so ein fester Topos im Comicdiskurs ist, finde ich christliche Parallelführungen ganz spannend. Am prominentesten und erfolgreichsten hat dies der irische Autor und Zeichner Sean Gordon Murphy mit Punk Rock Jesus gemacht (übrigens der Zeichner von Millars strunzlangweiligem Chrononauts). Die Christuslegenden bieten einen zeitlosen und sehr anpassungsfähigen Stoff: Christus als Reality-TV-Punk bei Murphy, als Rockstar in Andrew Lloyd Webbers Musical Jesus Christ Superstar oder eben als Superheld wider Willen bei Mark Millar. Das Konzept von Millars American Jesus erinnert mich in gewisser Weise an Kurt Busieks im gleichen Jahr, nämlich 2004, publizierten Comic Secret Identity: Hier wie dort wird die Superheldenidentität von außen auf die Figur projiziert.

Christian: Ich bin auch ein Fan von solchen Geschichten. Wenn sich jemand auf interessante oder originelle Weise mit biblischen Stoffen auseinandersetzt, dann muss ich mir das ansehen. Letztes Jahr gab es ja im amerikanischen Boom!-Verlag diesen Judas-Comic, den ich sehr interessant fand und auch The Good Man Jesus and the Scoundrel Christ, der Jesus-Roman von Philipp Pullman, ist in meinen Augen ganz groß. Weil diese Autoren eben nicht dünkelhaft über Bibeltexte die Nase rümpfen und das ganze als naiven Kinderglauben abtun, aber eben auch keine christlichen Eiferer sind. Ich finde diese Arbeiten sehr spannend. Deswegen tu ich mich mit Garth Ennis’ Preacher schwer. Mir fehlt es da an einem grundsätzlichen Interesse am Ausgangsmaterial. Das ist nur Randale. Bei Mark Millar ist das anders, auch wenn Millar ebenfalls gerne den Provokateur gibt. Nach dem ersten Band kann er sich jedenfalls meiner vollen Aufmerksamkeit sicher sein. Sein American Jesus wird immer interessanter, je mehr man sich hineinliest. Am Ende des Paperbacks war ich völlig von den Socken und wollte umgehend wissen, wie es weitergeht. Wenn man bedenkt, dass der erste Teil schon über 15 Jahre zurückliegt … ! Ich dachte vor ein paar Jahren noch, dass Millar sich mit seiner Prämisse und seinem finalen Twist in eine Ecke geschrieben hat, aus der er nicht mehr herausfand. Aber 2020 ist bei Image tatsächlich eine Fortsetzung erschienen, außerdem ist eine Netflix-Serie angekündigt.

Gerrit: Ich war zunächst überrascht, dass Image Comics diesen Millar-Titel im Mai und Panini nun im Herbst hierzulande neu aufgelegt hat, aber ein Blick in die Netflix-Produktionspläne offenbart den Hintergrund. Nicht nur die Serie Messiah (2020) knüpft an das Motiv eines modernen (und umstrittenen) Christus an, im kommenden Jahr soll eine sechsteilige Serie die Handlung von American Jesus ins Bewegtbild transformieren. Daher weht der Wind also. – Den Twist kurz vor Ende des ersten Bandes finde ich tatsächlich sehr gelungen. In dem zweistimmigen Nachwort “Das Evangelium nach Millar und Gross”, in dem Autor und Zeichner sich im Dialog die Bälle zuspielen, zählen sie die Hinweise auf, die auf die Wendung hindeuten. Manche davon sind schwer zu übersehen gewesen, andere doch wieder dezent genug, um erst bei gründlicher Lektüre aufzufallen. Man wird danach zwangsläufig zu einem Suchenden, der in der gezeichneten Welt nach (un-)heilbringenden Zeichen sucht, die einem die Welt erklären: “Millar/Gross – gebt mir ein Zeichen!” Das finde ich schon ganz konsequent, denn der Weg christlicher Erkenntnis führt vom Sichtbaren zum Unsichtbaren: per visibilia ad invisibilia.

Christian: Ich finde ja auch, dass Peter Gross’ Zeichnungen einen großen Anteil daran haben, dass man American Jesus so gerne liest. Normalerweise finde ich Gross’ Zeichnungen immer etwas zu brav, aber es passt optimal zu dieser Geschichte, die ja konsequent am Alltag von Jugendlichen und deren Lebenswelt andockt. Dazu kommt die ungewöhnliche Aquarell-Kolorierung von Jeanne McGee. Man sieht wirklich, welchen Einfluss eine inspirierte Farbgebung auf den Gesamteindruck haben kann. Das sieht Längen besser aus als die übliche reduzierte Digitalkolorierung.

Gerrit: Gross und McGee haben auch bei der Vertigo-Serie The Unwritten zusammengearbeitet, mit einem ganz anderen Look. Ich finde es erstaunlich, wie unterschiedlich die beiden Serien geraten sind. Die visuellen Andeutungen in American Jesus, so deutet das Nachwort an, gehen auf die Phantasie von Peter Gross zurück. Den mit sich und seinem Glauben hadernden Pfarrer habe er nach dem Vorbild von Philip Seymour Hoffman (Ruhe in Frieden!) gezeichnet. Natürlich heißt er Thomas, benannt nach dem Apostel, der an dem Heiland zweifelt.

Christian: Der Philip-Seymour-Hoffman-Look war aber die Idee von Millar. Das ist typisch Millar, dass er gleich an Schauspieler denkt, wenn er Comics schreibt. Aber ich will nicht stänkern. Millar hat sicher nicht nur die Zweitverwertung als Film im Kopf, wenn er Comics skriptet. Dafür sehen seine Comics einfach zu gut aus, egal, ob sie von Raphael Albuquerque, John Romita Jr. oder eben Peter Gross realisiert sind. Ob sie inhaltlich überragend sind, steht natürlich auf einem anderen Blatt.

Die Figur des zweifelnden Priesters finde ich übrigens eine der gelungensten der Reihe. Es ist schon sehr ironisch, dass gerade der Berufschrist in American Jesus, als alle beginnen, dem wiedergeborene Jesus zu huldigen, die Stimme der Vernunft zu sein hat. Das ist einerseits ein konsequentes Spiel mit den Erwartungen des Leser, andererseits aber überraschend plausibel. Überhaupt ist die Story doppelbödig angelegt. Das Offensichtliche erweist sich in mehrfacher Hinsicht als trügerisch und man ist gefordert, zweimal hinzusehen.

Gerrit: Während die Eltern von Jodie Christianson (weit weniger subtil als John Connor in The Terminator …) sehr farblos bleiben, ist Pater Thomas O’Higgins tatsächlich sehr stark im Zentrum. Der unflätige und resignierte Pater zweifelt an allem, auch an seinen Zweifeln. Und dass er trotz all seiner Irrtümer letztlich nicht Unrecht behält, macht ihn zu einer herrlich widersprüchlichen Figur. Mir gefällt der Dialog zwischen ihm und Jodie am Ende des zweiten Kapitels, als Jodie ihn beinahe davon überzeugt, tatsächlich der Erlöser zu sein und Thomas in wildes Fluchen und dann in tiefe Trauer ausbricht. Auf der Splash Page, mit der das Kapitel endet, stehen drei Strommasten, die wie die drei Kreuze auf dem Hügel Golgatha aussehen. Rechterhand Jodie, linkerhand Thomas, und in der Mitte ein Straßenschild “Division Ave”. Hier trennen sich ihre Wege, und ein zweites Schild macht klar, dass es sich um eine Einbahnstraße handelt: “One Way”. Im Hintergrund, sehr markant, ist der Stich “The Fall of the Rebel Angels”, eine Illustration von Gustave Doré zu John Miltons Paradise Lost zu sehen. Eine beeindruckende Dichte, aber fast schon ein wenig plakativ. Mal sehen, was der zweite Band bringt. Und die TV-Serie.

Christian: Man kann nur hoffen, dass die Fernsehserie nicht die Comicserie überholt. Das hat schon Game of Thrones nicht gut getan. Den Comic jedenfalls kann ich empfehlen. Ich bin sehr gespannt, ob es Millar gelingt, das Niveau zu halten, oder ob die Reihe nicht doch in Richtung Fantasy abdriftet. Haha. Als ob diese religiöse Räuberpistole in der Tradition von Richard Donners Film Omen von 1976 bisher keine Fantasy gewesen wäre.

Der zweite Band ist im November 2020 erschienen.

Christians Fazit: 9von10
Das Omen auf den Kopf gestellt

 

 

 

Gerrits Fazit:
8von10Jesus Christ Superstar, ob er will oder nicht

 

 

 

American Jesus 1 – Der Auserwählte
Panini, 2020
Text: Mark Millar
Zeichnungen: Peter Gross
Übersetzung: Bernd Kronsbein
100 Seiten, Farbe, Softcover
Preis: 15,00 Euro
ISBN: 978-3741619458

Leseprobe:

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