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Zwischen Kunstschutz und Jugendschutz: Über die Spruchpraxis der BPjM – Teil 2

Im ersten Teil des Artikels ging es um eine differenzierende und wohlwollende Entscheidung zu Ralf Königs Buch Bullenklöten. Ein 12er-Gremium, bestehend aus Mitgliedern der Bundesprüfstelle sowie Vertretern von Kunst, Literatur, Handel, Kirche und Ländern hat gezeigt, dass moderne Comics Kunst sein können. Dass bei vermeintlicher Gewaltverherrlichung die Urteilsverkündung anders ausfallen kann, zeigt indes die Verhandlung eines Comicbands der Reihe The Punisher, auf die ich im folgenden eingehen werde. Die Gewaltverherrlichung erschien hier so offensichtlich, dass man kein 12er-Gremium einberief, sondern zum Werkzeug des Schnellverfahrens griff.

Das 3er-Gremium spricht: The Punisher erheblich jugendgefährdend

puni-cover-2Keinen Kunstvorbehalt konnte (bzw. wollte) man einem Buch der Reihe The Punisher – Garth Ennis Collection einräumen, und damit auch keine Anerkennung irgendwelcher literarischer Relevanz abseits davon, dass von diesem Comic eine „erhebliche Jugendgefährdung“ ausgeht. Die sah man als so offensichtlich gegeben, dass nicht das 12er-Gremium der BPjM darüber tagte sondern das reduzierte 3er-Gremium, welches die Arbeit dann aufnimmt, wenn von einer offensichtlichen Jugendgefährdung auszugehen ist. Das heißt, dass man von der bisherigen Spruchpraxis der BPjM auf das zu erwartendene Ergebnis schließen kann. Anders als beim 12er-Gremium, welches mit einer Zweidrittelmehrheit entscheidet, muss das 3er-Gremium seine Beschlüsse allerdings einstimmig fassen.

Im Beschluss zum Punisher, einer Figur, deren einziger Lebensinhalt es ist, Kriminelle zu töten, steht dazu: „Die Jugendgefährdung ist auch offensichtlich. […] Das 12er-Gremium soll von der routinehaften Anwendung seiner Bewertungsmaßstäbe sowie von solchen Entscheidungen freigestellt werden, die auf der Grundlage seiner bisherigen Praxis zweifelsfrei nicht anders als im Sinne des Indizierungsantrages ausfallen können. […] Dies ist vorliegend zu bejahen, da das 12er-Gremium der Bundesprüfstelle Medien, die von Gewalt geprägt sind und Selbstjustiz propagieren, stets als jugendgefährdend indiziert hat.“ Auch einen Fall von geringer Bedeutung, bei dem von einer Listenaufnahme abgesehen werden kann, wollte man nicht erkennen.

Die Zusammenstellung der Punisher-Stories des vorliegenden Buchs ist zeichnerisch sowie erzählerisch aufgrund mehrerer Zeichnerwechsel nicht kohärent, obwohl sämtliche Stories vom selben Autor, in diesem Fall Garth Ennis, geschrieben und aus derselben Veröffentlichungsära („Marvel Knights“, frühe Nuller Jahre) stammen. Das Gremium ist durchaus der Meinung, dass eine dreiteilige Storyline (Originaltitel: The Brotherhood), die in dem dicken Sammelband vorliegt, eine kritische Auseinandersetzung zur dargestellten Gewalt enthält. Zu dieser Episode vermerkt der Verfasser der Begründung: „Insofern sah das Gremium in Bezug auf diese Gewaltschilderung keine verrohende Wirkung gegeben. Diese Nebenhandlung kann allerdings nach Ansicht des Gremiums die im sonstigen Comic zuhauf vorkommende, unkritisch präsentierte Gewalt in keiner Weise relativieren.“

Problematisch werden aber die anderen Geschichten gesehen, die jenes erzählerisch herausragende Mittelstück an den Rand drängen, allen voran eine Episode, deren Erzählperspektive konsequent aus der Mundhöhle eines Mannes gehalten ist, der sich mit gesperrtem Kiefer in einem Zahnarztstuhl befindet. In der Essenz der Geschichte geht es darum, dass der Punisher einen wehrlosen Mafioso mit Zahnarztwerkzeugen foltert und tötet. „’Hmmm. Was muss ich da sehen, Don Signore? Karies?‘ Der Punisher bricht dem Patienten mit einer Zange mehrere Zähne einzeln nacheinander aus. Die Gewalthandlung selbst wird nicht visualisiert, aber auf dem darauf folgenden Bild fehlen im Mund mehr Zähne; die blutigen Zahnlücken sind deutlich zu sehen.“

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Der Punisher von Steve Dillon. © Marvel Comics

Das Buch enthält eine Mischung aus ambitionierten Geschichten (The Brotherhood) einerseits, andererseits aber problematischen Geschichten, allen voran die makabre Zahnarztstory, die im Original in einem Sonderheft außerhalb der tatsächlichen Reihe veröffentlicht wurde. Es gibt aber noch weitere Punisher-Episoden, die in dem Sammelband zusammengefasst sind, und diese entsprechen im Grunde genau dem, was bei Ralf Königs Bullenklöten zum Qualitätsmerkmal erklärt wurde. Sie sind grotesk, karikierend und überzeichnend. Anders als bei Ralf König wurde diesem Comic jedoch von Seiten der Behörde diese Art von Witz nicht zugestanden – vielleicht auch nicht verstanden: Das Comicbuch enthält eine wahre Fülle an Gewaltdarstellungen. Es ist den Zeichnern dabei grundsätzlich zuzugestehen, dass sie die Gewalthandlungen zum überwiegenden Teil in eher zurückhaltender Weise, wenn auch deutlich und mit blutiger Untermalung, schildern. Jedoch erscheint das Töten und Verletzen von vermeintlichen und tatsächlichen Gegnern im Comic wie ein selbstverständlicher, normaler Vorgang. Der Punisher tötet bzw. verletzt auf geschätzt jeder zweiten Seite des Buches einen anderen Menschen und geht dabei äußerst brutal vor. […] Hinzu kommt, dass der Punisher mit zynischen Sprüchen die Tötung oder Verletzung seiner Gegner kommentiert. Dies verharmlost die Gewaltanwendung zusätzlich und lässt den Punisher und sein rücksichtsloses Vorgehen gerade auf minderjährige Leserinnen und Leser besonders cool‘ wirken.“

Nichts von dem, was in der Begründung steht, ist falsch. Darüber hinaus moniert das Gremium, dass auch die zivilen Figuren und die Polizisten, die mit dem Punisher zu tun haben, dessen Vorgehen billigen und belegt dies mit Textbeispielen. Diese Beispiele sind teilweise tautologisch, da sie nur das Offensichtliche benennen. So sagt beispielsweise eine Frau zum Punisher „Sie haben wohl wieder bestraft…“, worauf dieser erwidert „Genau“, an anderer Stelle meint dieselbe Person „Sie müssen nicht immer als Punisher andere bestrafen.“ In solchen Szenen wird vom Gremium offensichtlich beklagt, dass eine weitgehende Akzeptanz der Selbstjustiz vorherrscht, beziehungsweise schlimmstenfalls jegliche Kritik an der Selbstjustiz durch die manipulative Konstruktion der Stories letztlich irrelevant erscheinen muss. „Das Vorgehen von Frank Castle [dem Punisher] wird nur an wenigen Stellen problematisiert: als seine Nachbarin ihm sagt, er müsse nicht für immer der Rächer bleiben und als in den Katakomben eine Sozialarbeiterin ihn befragt, wie er den Verlust seiner Familie verarbeitet habe, ihn in einen Dialog über Selbstjustiz verwickelt und ihn wegen seiner Kaltblütigkeit als ‚Monster‘ bezeichnet. In Frage stellt die Nachbarin das Verhalten des Punishers jedoch ebenso wenig wie der mit ihm befreundete Polizist, eine Person, die gerade der Einhaltung der Gesetze besonders verpflichtet ist. […] Für Kinder und Jugendliche verbleibt so der Eindruck, dass die Anwendung von Selbstjustiz, zumal da sie vom ‚Helden‘ der Geschichte und damit vom ‚Guten‘ ausgeübt wird, der darüber hinaus ’nur‘ Kriminelle ihrer gerechten Strafe zuführt, eine akzeptable Handlungsweise darstellt.“ Nicht genannt, dennoch zutreffend, wäre sogar der Vorwurf, dass Kriminelle in der Sichtweise des Punishers eher in die Kategorie von Untermenschen fallen. Weshalb also nicht auch eine Herrenmenschenideologie attestieren, wie dies ja auch beim beschlagnahmten Film Dawn of the Dead der Fall ist? Tatsächlich erfüllt der Punisher nahezu alle Kriterien der Gewaltverherrlichung und der Jugendgefährdung, die auf der Webseite der BPjM aufgelistet sind. (Direkter Link hier!)

Dennoch hat der Panini-Verlag den Versuch unternommen, eine Indizierung zu vermeiden. In der Stellungnahme, die ebenfalls Bestandteil des Beschlusses ist, wird die Historie des Punisher sowie dessen Bedeutung herausgearbeitet: „Die Figur des Punishers ist […] dem Archetyp des literarischen Antihelden gleichzusetzen. Die übrigen Helden [des Marvel-Universums] dulden ihn als Institution, lehnen allerdings seine Methoden der Selbstjustiz ab. […] Er ist Sinnbild für das Prinzip des Vigilantismus – ein verbreitetes Motiv für zahlreiche Produktionen der trivialen Kunst und Literatur.“ Damit ist im Prinzip bereits alles gesagt. Es ist alleiniger Sinn und Zweck des Punishers, die negative, böse Seite der Idee des Helden zu verkörpern. Die Figur ist eine Projektionsfläche für den Wunsch nach einfachen Lösungen, ein dunkler Trieb, den zu visualisieren absolut legitim ist. Literatur, Film und Comic sind eben nicht nur dazu da, Rollenvorbilder und ideale Handlungsanweisungen zu bieten, sondern ebenso Raum für Gedankenspiele zur Verfügung zu stellen, so dass man sich beispielsweise in die Gedankenwelt eines Psychopathen eindenken kann. Auch Nabokovs Humbert Humbert und Bret Easton Ellis‘ Patrick Bateman waren zu ihrer Entstehungszeit enorme Aufreger, aber der literarische Rang dieser Figuren ist inzwischen unbestritten.

Nun kann man einwenden, dass es nicht das Bestreben der Bundesprüfstelle ist, den Punisher komplett zu verbannen, es ist ja lediglich eine einzelne Nummer einer großen Reihe, die auf dem Index landet, was wohlgemerkt auch kein Verbot ist, sondern lediglich eine Vertriebsbeschränkung. Für jeden Interessenten über 18 Jahre ist der Comic weiterhin erhältlich, und der Umstand, dass das Buch die Nummer 3 einer vierbändigen Reihe ist, sorgt sogar dafür, dass es trotz Werbeverbots nicht in Vergessenheit gerät.

In der Begründung zur Indizierung heißt es: „Ziel des Jugendschutzes ist es, die Erziehung Minderjähriger so zu prägen, dass sie zu Eigenverantwortlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit hingeleitet werden. Gemeinschaftsfähigkeit stellt eine Absage an die zunehmende Individualisierung und Entsolidarisierung dar, Ziel ist die Förderung von Solidarität, Partizipation und Sinn für gegenseitigen Respekt. Dieses Ziel ergibt sich mittelbar aus dem Schutzbereich, welcher durch den gesetzlichen Regelbeispielkatalog gewahrt werden soll. Auch die Ablehnung von Gewalt als Mittel zur Lösung von Konflikten stellt einen wichtigen Teil des Erziehungsziels dar.“ Das ist zweifellos richtig und ich fürchte, viele Jugendliche sind tatsächlich von der modernen Medienwelt überfordert – und zweifellos können viele Erziehungsberechtigte Unterstützung in der richtigen Medienerziehung gut gebrauchen. Aber soll deswegen der komplette Mediensektor abseits der „anerkannten Kunst“ nur aus funktionaler Gebrauchskunst bestehen, die zur Weiterbildung und Erziehung dient? Spinnereien, auch wenn sie irritierend sind wie eben die Punisher-Comics, müssen legitim, das Gedankenspiel mit düsteren Archetypen muss möglich sein.

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Der Inbegriff unreflektierter Heldendarstellung bei Trigan. © Panini Comics

Es gibt genügend Comics mit Führerfiguren und strahlenden Helden, die unbeanstandet bleiben, obwohl sonnenklar ist, wie gefährlich unreflektierte Heldenverehrung sein kann. Demgegenüber sind die Punisher-Stories, gerade die von Garth Ennis, reflektiert, da sie weitaus deutlicher ihre Künstlichkeit herausstellen, was man schon an dem Oszillieren zwischen absurder Komik und ernsten Themen wie Korruption und häuslicher Gewalt erkennt. Was in der Begründung des 3er-Gremiums eine Aneinanderreihung von Gewalttaten ist, kann auch als erzählerische Verdichtung gesehen werden, die mit dem Vorwissen des Lesers spielt. Für den geübten Comicleser ist die Reihe ein kreativer, fast interaktiver Dialog, der mit Erwartungen jongliert und diese variiert. Was das 3er-Gremium als Verherrlichung der Selbstjustiz sieht, ist tatsächlich eine Parodie. Gerade deshalb findet ja auch keine Entwicklung statt; stattdessen ist Frank Castle ebenso unbeweglich wie unmenschlich.

Es ist schade, dass dieser Comic nur im 3er-Gremium diskutiert wurde, da in ihm einiges an künstlerischem Wert verborgen liegt. Da schmerzt es schon, dass die Vorentscheidung der offensichtlichen Gewaltverherrlichung auf gewisse Weise eine Vorverurteilung war. Die Motivation der Zensur kann ich indes nachvollziehen. Gerade in Zeiten, in denen das Internet praktisch unbegrenzten Zugang zu Gewaltvideos und Pornografie bietet, möchte man nicht aufgrund der normativen Kraft des Faktischen die letzten – auch meiner Meinung nach – schützenswerten Werte schleifen lassen, nur weil ohnehin alles verfügbar ist.

rezension_battle_royale_1_coverDie Wichtigkeit von Freundschaft und gegenseitiger Unterstützung – Das 12er-Gremium entscheidet über Battle Royale

Die Entscheidung des 12er-Gremius über die Ausgaben 2 und 4 der Reihe Battle Royale gibt einen guten Aufschluss darüber, was an Brutalitäten in einem Comic möglich ist, ohne dass es zu einer Indizierung kommen muss: „Die Comics enthalten zum Teil äußerst drastische Gewaltdarstellungen (Kopfschüsse; von Pfeilen und anderen Geschossen durchbohrte Körperteile). Ein Teil der Beisitzerinnen und Beisitzer sah diese in den Comics enthaltenen Szenen als so detailliert und ausufernd an, dass sie ihrer Ansicht nach ins Selbstzweckhafte abgleiten und deshalb bei Abwägung aller Aspekte eine Indizierung der Comicbände zu erfolgen habe.“

Dennoch kam es zu keiner Indizierung des Comics, einer Dystopie, in der eine Schulklasse im Zuge eines jährlich stattfindenden staatlichen Experiments auf einer einsamen Insel ausgesetzt wird, damit sich die Schüler dort gegenseitig umbringen, bis nur einer übrig bleibt. Wichtigster Grund dürfte das Identifikationsangebot sein, das die Hauptfiguren der Reihe dem Leser bieten: „Die letzte Gruppe, die ‚Guten‘, seien diejenigen Figuren, die es ablehnten, andere Figuren zu töten bzw. die lediglich zur Verteidigung und in Notwehr töten. Ihre Entscheidungen und inneren Konflikte fänden in dem umfangreichen Werk den absolut größten Raum. Dies gelte insbesondere für die beiden Hauptcharaktere Shuya und Noriko. Die mehr oder weniger erfolgreichen Versuche Shuyas, andere Personen dazu zu gewinnen ihr Misstrauen abzulegen und sich der Gruppe und der gemeinsamen Aufgabe anzuschließen sowie Freundschaft und Vertrauen herzustellen und bei allem die Hoffnung zu bewahren, sei das zentrale Leitmotiv der Comics.“

Als Begründung wird ausgeführt, weshalb die Gewalt nicht jugendgefährdend wirkt: „Nach §18 Abs. 1 Satz 2 JuSchG sind Medien u.a. dann jugendgefährdend, wenn sie unsittlich sind, verrohend wirken, oder wenn sie Gewalthandlungen wie Mord- und Metzelszenen selbstzweckhaft und detailliert darstellen oder Selbstjustiz als einzig bewährtes Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit nahe legen. Verrohend wirkende Medien sind solche, die geeignet sind, auf Kinder und Jugendliche durch Wecken und Fördern von Sadismus und Gewalttätigkeit, Hinterlist und gemeiner Schadenfreude einen verrohenden Einfluss auszuüben. Das ist der Fall, wenn mediale Gewaltdarstellungen Gewalt fördern bzw. ihr entschuldigend das Wort reden. Das ist vor allem dann gegeben, wenn Gewalt ausführlich und detailliert gezeigt wird und die Leiden der Opfer augeblendet werden bzw. die Opfer als ausgestoßen, minderwertig oder Schuldige dargestellt werden.“ Gerade beim letzten Absatz möchte ich noch einmal auf den Punisher verweisen, dessen Opfer allesamt durch ihre Kriminalität durchaus als „ausgestoßen, minderwertig oder Schuldig“ gesehen werden. Dagegen bietet Battle Royale einen Ausweg aus diesem Denkschema. „Die Gewichtung des Autors innerhalb der Comics erfolgt vielmehr eindeutig zugunsten der ‚guten‘ Schüler. Deren Anstrengung, sich gegen ‚das Programm‘ zu stellen und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler von einem gewaltfreien Verhalten zu überzeugen, dominieren insgesamt die Comicbände, so dass diese Botschaft des Autors auch von den drastischen Gewaltschilderungen, die im Verhältnis zum Gesamtumfang der Comics den kleineren Anteil ausmachen, nicht in den Hintergrund verdrängt wird.“

Auch diese Entscheidung ist ebenso nachvollziehbar wie erfreulich. Man merkt, dass hier Menschen am Werk sind, die nach bestem Wissen und Gewissen arbeiten um ihrem anspruchsvollen Auftrag gerecht zu werden. Wenn man bedenkt wie rigoros und willkürlich dagegen die Algorithmen von Facebook alles zensieren, was einem baren Busen ähnelt, wie weitreichend die Zensur von Facebook ist und wie gottgegeben diese von den Usern akzeptiert wird, kann man fast nicht anders, als die BPjM als Einrichtung mit Charme und Herz zu sehen.

Es ist tatsächlich wohl auch angebracht, sich mit der BPjM als Instanz zu arrangieren. Es wird uns keine Alternative bleiben, handelt es sich doch um eine etablierte Behörde mit Erfahrung und Tradition. Und wirklich, wem würde man mehr Vertrauen schenken, wenn es um die Einschätzung der verrohenden Wirkung eines Werks geht? Der Expertise von Pädagogen und Wissenschaftlern, die langjährige Erfahrung mit Jugendgefährdung haben oder einem Comicfan, der bedauert, dass seine Sammlung nicht vollständig ist – zumal das belastete Buch ohnehin nur einer Vertriebsbeschränkung unterliegt und keineswegs verboten ist?

Schlussbemerkung – Plädoyer für dreckige Comics

Bei aller Sympathie gegenüber der BPjM (wobei ich in meiner Position aus der Comicszene heraus aber auch als Advocatus Diaboli gesehen werden möchte) sollen dennoch einige kritische Aspekte nicht außer Acht gelassen werden. Die Aufnahme eines Werks in die Liste der jugendgefährdenden Medien ist ein höchst anrüchiges Stigma, weil es damit in eine Reihe mit kriegsverherrlichenden, nationalsozialistischen und pornografischen Medien gestellt wird.

Dabei sind es keineswegs immer kommerzielle Interessen, die einen Comicautor veranlassen, die Grenzen dessen, was Jugendlichen zuzumuten ist, zu verlassen. Prominentestes Beispiel ist sicher Ralf König, der Anfang der 1990er ja durchaus keinen Anlass hatte zu glauben, sein Bullenklöten wäre jugendfrei. Deshalb hat er sich dafür entschieden, Bullenklöten für einen kleinen Verlag zu zeichnen, der ausschließlich ein Nischenpublikum bedienen sollte. Er wollte schlichtweg einmal wieder etwas „richtig Schwules“ machen. In meinen Augen ist Bullenklöten sein tatsächlicher künstlerischer Durchbruch, weil es eben keine harmlose Schwulenkomödie mit Knollennasen war wie seine Mainstreamarbeiten für den Rowohlt Verlag, sondern weil er die Drehbuchqualität der Rowohlt-Bücher mit expliziter, auch pornografischer Darstellung kurzschloss. Das Ergebnis war, dass man begann, die homosexuellen Figuren als echte Menschen wahrzunehmen, nicht nur als Klischeefiguren, als die sie damals vom breiten Publikum gerne gesehen wurden. Derartige Provokationen können sehr gewinnbringend sein, gleichwohl muss man sich Irritationen dieser Art aber auch erst einmal zu produzieren trauen. Bei der derzeitigen Lage, in der eine Intervention durch ein Jugendamt und damit ein BPjM-Verfahren, mit welchem Ausgang auch immer, nicht ausgeschlossen ist, ist kaum zu erwarten, dass ein Künstler, der von Erfolg und Anerkennung träumt, diesen Weg einschlagen wird. Zumal es auch keinen Verlag geben wird, der das Risiko eingeht. So ist gerade für Eigenproduktionen die Gefahr der Indizierung ein Damoklesschwert, während für Lizenzmaterial aus den USA, das hierzulande bereits Fans hat, das Risiko deutlich geringer ist. Ein Punisher von Garth Ennis wird auch mit Vertriebsbeschränkung immer seine Leser finden.

Erst kürzlich hat der Autor des Editorials der Zeitschrift Comixene moniert, deutsche Graphic Novels würden darunter leiden, dass sie oft in einem naiven Stil gezeichnet wären. Aber auch das dürfte zumindest mittelbar einem Comicverständnis geschuldet sein, das auch die BPjM vertritt. Verfremdete, karikierende Darstellungen dürfen, was realistische Darstellungen nicht Porn Coverdürfen. Ralf Königs und Nicolas Mahlers pornografische Darstellungen in Comics wie Bullenklöten oder Porn Story (Mahler illustrierte in letzterem die Pornofilm-Einschübe) sind nur im naiven Cartoonstrich gestattet, entsprechend lernt die ganze Comicszene anhand dieser Vorbilder. Natürlich sind die von Nicolas Mahler gestalteten Pornosequenzen in Porn Story aus Gründen der Ironie so stilisiert und abstrakt, nicht aus Gründen der Selbstzensur. Dennoch haben gerade Künstler wie Nicolas Mahler, Ralf König oder auch Walter Moers Vorbildwirkung, wenn es um die Frage geht, wo in Deutschland die Grenzen des Zeigbaren ist.

Was auf der Strecke bleibt, sind realistischere Ansätze, die etwas wagen. Ich denke an die Möglichkeit von Comic-Thrillern, die es mit Scorseses Taxi Driver oder Azzarellos 100 Bullets aufnehmen könnten. Auch am Beispiel Battle Royale sieht man, wie dünnwandig die Grenze ist, die vermeintlich Jugendgefährdendes von der Kunst trennt. Die Entscheidung hätte leicht anders ausfallen können, denn die BPjM ist nicht unfehlbar und erhebt auch nicht den Anspruch, das zu sein. Während eine Indizierung aber eine erhebliche Stigmatisierung bedeutet, ist der Kunstvorbehalt genau entgegengesetzt absolut und es gibt überhaupt keine Auflagen mehr. In der Begründung zu Battle Royale heißt es dazu: „Das 12er-Gremium hat nicht verkannt, dass die kritische Haltung des Autors gegenüber Gewalt und sein Ansatz, dies mittels drastischer Überzeichnung zu verdeutlichen, unter Umständen von Kindern oder jüngeren Jugendlichen nicht verstanden werden. Eine Beeinträchtigung diese Altersgruppen ist aufgrund der in den Comics enthaltenen detaillierten Schilderungen von Gewalt daher nicht auszuschließen. Über eine Jugendbeeinträchtigung hatte die Bundesprüfstelle jedoch nicht zu befinden. Insbesondere obliegt es daher im Bereich der Printmedien Eltern und anderen Erziehenden, solche Inhalte entsprechenden Altersgruppen nicht zugänglich zu machen.“ Dieses Vertrauen in die Welt außerhalb der staatlichen Institutionen würde man sich tatsächlich öfter wünschen.

Literatur und Links

Achim Schnurrer,  u.a. (1996): Comic: Zensiert, Edition Kunst der Comics, Sonneberg.

Roland Seim und Josef Spiegel (1995): Ab 18, zensiert, diskutiert, unterschlagen, Kulturbüro Münster, 48157 Münster. (Darin enthalten ist folgender Text des Plattenlabels Plattenmeister, welches die Benefiz-CD zur Unterstützung des Alpha-Comic Verlags produzierte: www.plattenmeister.de/_texte/Infolang.rtf) Zugriff: 08.10.2016

Jens Balzer (1996), Deutsche Comic-Szene: Die Zensur des Grauens, aus der Wochenzeitung Die Zeit (http://www.zeit.de/1996/17/kondom.txt.19960419.xml). Zugriff: 08.10.2016

ohne Autorenangabe (2009): Giftschrank-Jury: Wie Deutschlands Sittenwächter ticken, Spiegel Online (http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/giftschrank-jury-wie-deutschlands-sittenwaechter-ticken-a-624853-2.html). Zugriff: 08.10.2016

Volker Hamann (2016): Panini: Albenprogramm 2. Halbjahr 2016 – Interview mit Alexander Bubenheimer, http://www.comic-report.de/index.php/verlage/panini/1075-panini-alben2016-2. Zugriff: 08.10.2016

BPjM, Beschlussprotokolle zu Bullenklöten (Entscheidung 4512 vom 6.7.1995; Pr. 48/94), The Punisher (Entscheidung 8795(V) vom 8.7.2009; Pr. 577/09) Battle Royale (Entscheidung 5708 und 5709 vom 4.3.2010; Pr. 1148/09, Pr. 1149/09).

http://www.bundespruefstelle.de/

http://www.bundespruefstelle.de/bpjm/Jugendgefaehrdungstatbestaende/Gesetzlich-geregelte-Fallgruppen/anreizen-zu-gewalttaetigkeit,did=203284.html

 

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