An dieser Stelle berichten wir von Comic-Events wie dem Comic-Salon Erlangen, der Frankfurter Buchmesse oder dem Münchner Comicfestival. Persönliche Eindrücke, Fotos, Nachrichtenhäppchen und einiges mehr.
16.6.09
Schwer von Begriff
(Vortrag "Graphic Novels. Ein aktueller Trend zwischen Anspruch und Realität" von Helmut Kronthaler)
Wie bereits auf dem Comic-Salon Erlangen 2008 und der Frankfurter "Faszination Comic" 2007, wurde auch in München am vergangenen Wochenende wieder einmal die Gretchenfrage gestellt: Was ist denn eigentlich eine "Graphic Novel"? Referent Helmut Kronthalers Antwort, stark verkürzt: Na, Watchmen, zum Beispiel. Aber war das nicht mal so 'ne Serie von Heftchen? Nun ja, eins nach dem anderen.
In dem gut gefüllten, wenn auch nicht besonders großen Oberstübchen des Bier- und Oktoberfest-Museums setzte Herr Kronthaler zur Begriffsklärung an. Da der Vortrag am späten Samstagnachmittag stattfand, war es wenig verwunderlich, dass er dies bei schwüler Luft und unter lautstarkem Gejohle aus der Kneipe im Erdgeschoß des Gebäudes bewerkstelligen musste.
Dankenswerter Weise ließ das Unterfangen trotz der widrigen Umstände aber nichts an Fahrt oder Klarheit vermissen. Als Aufhänger für seinen Ansatz, die transatlantischen Missverständnisse um den Terminus der "Graphic Novel", auf Deutsch also wörtlich des "Grafischen Romans" [und eben nicht der "Grafischen Novelle", Anm. FP], zu beleuchten, verwies Kronthaler auf das Faltblatt "Was sind Graphic Novels? Eine kurze Einführung", welches anlässlich des aktuellen Comicfestivals in Kooperation mehrerer Verlage herausgegeben worden war. "Graphic Novels sind Comics", heißt es dort auf der ersten Seite, "mit Themen, die sich nicht mehr nur an Kinder und Jugendliche, sondern an erwachsene Leser richten."
Damit waren schon mal drei wichtige Dinge geklärt: Erstens, in Deutschland wird der Begriff "Graphic Novel" gern am Inhalt eines Comics festgemacht. Zweitens, dies geschieht auf Antrieb und zum Nutzen der Verlage; denn die haben damit ein wirksames Marketing-Instrument gefunden, um ihre Produkte Menschen näher zu bringen, die vor allem an "Kinderkram" wie Micky Maus oder Fix & Foxi denken, wenn der Begriff "Comic" fällt. Und drittens schließlich wurde deutlich, dass Kronthalers Vortrag sich nicht aufs Deskriptive beschränken würde. Den erwähnten Flyer und die darin vertretenen Thesen könne man, seiner Ansicht nach, nämlich getrost vergessen.
Der Münchner Comicforscher wies stattdessen auf die US-amerikanische Auffassung der "Graphic Novel" hin, die seit jeher eher an das Publikationsformat geknüpft gewesen sei. Dabei sei es einerlei, ob es sich um Sammlungen von Kurzgeschichten (wie Will Eisners A Contract with God and Other Tenement Stories von 1978), 48- bis 64-seitige Alben (wie die aus der Reihe Marvel Graphic Novel aus den frühen 1980ern) oder Sammelbände bereits erschienenen Materials (wie sie heute speziell von Marvel und DC jeden Monat zu Dutzenden auf den Markt geworfen werden) handele. In der Neuen Welt sei die "Graphic Novel" von einer ganz lapidaren Äußerlichkeit gekennzeichnet: dem Vorhandensein eines Buchrückens.
Als geeignete Anlaufstelle für Verwirrte gab Kronthaler das Buch The Rough Guide to Graphic Novels des amerikanischen Autors, Redakteurs und Comic-Schöpfers Danny Fingeroth an. Fingeroth unterscheide zwischen "Comic Strips" (etwa Zeitungsstrips wie den "Peanuts"), "Comic Books" (also klassischen Comicheften) und eben "Graphic Novels", erklärte Kronthaler, wobei alle drei Spielarten sich unter dem Oberbegriffs der "Comics" einordnen liessen.
Der Kunsthistoriker Kronthaler ging auf Spurensuche in der Geschichte. Er lenkte die Aufmerksamkeit seines Publikums etwa auf die Werke von Otto Nückel, Franz Masereel und Lynd Ward, die bereits in den 1920ern und -30ern "sprachlose Romane" geschaffen und ihre Geschichten komplett in Holzschnitten erzählt hatten; auch It Rhymes with Lust, eine 1950 erschienene "Picture Novel", geschrieben von Arnold Drake und Leslie Waller und illustriert von Matt Baker und Ray Osrin, fand Erwähnung, bevor man über Eisners Werk und die schon damals vom Marvel-Verlag sehr geschickt verpackte Marvel Graphic Novel-Serie dann bei Watchmen ankam. Der geschichtliche Ansatz legte vor allem Wert darauf, den Zuhörer für einen kritischen Umgang mit der Materie zu wappnen: Kronthaler identifizierte geduldig das Sammelsurium verschiedenartiger Comics, die bereits als "Graphic Novels" feilgeboten wurden, nur um dann jedesmal festzustellen, wie wenig sie eigentlich mit dem gemein haben, was man sich unter einem "Grafischen Roman" vorstellen könnte, wenn man den Begriff denn genau nähme.
Alan Moores und Dave Gibbons' Watchmen, sagte Kronthaler, sei für ihn der Inbegriff einer "Graphic Novel". Zwar sei die Erzählung 1986 bis 1987 ursprünglich als zwölfteilige Heftserie erschienen (und in deutscher Übersetzung, nicht zu vergessen, zunächst 1989 als sechsteilige Albenreihe bei Carlsen), doch das entscheidende Element sei hier ein anderes: Es handele sich bei dem Band nämlich um die erste als abgeschlossenes Gesamtwerk konzipierte Comic-Erzählung auf dem anglo-amerikanischen Markt, die es in Umfang und Komplexität mit einem "richtigen" Roman aufnehmen könne.
Ein Zuhörer brachte nun den Einwand, dass Moore in Watchmen aber doch gezielt die Unterbrechungen, die sich aus der seriellen Veröffentlichung am Ende jedes Heftes ergaben, als Stilmittel einsetze. Kronthaler gab daraufhin zu bedenken, dass auch frühe Prosa-Romane (siehe etwa Austen oder Dickens) oft zunächst als Fortsetzungsgeschichten erschienen, bevor sie zu ihrer heute bekannten Buchform fanden. Aber war etwa ein Edgar Allan Poe in den ersten Kapiteln seines Arthur Gordon Pym tatsächlich ebenso bemüht, deren Publikation als Episoden in der Zeitschrift Southern Literary Messenger Rechnung zu tragen, wie dies 150 Jahre später bei Alan Moore der Fall war? Bei der Frage nach den Auswirkungen der seriellen Erscheinungsweise bei Comics - sowohl auf die Arbeitsweise des Autors als auch auf die Rezeption beim Leser - besteht wohl noch einiges an Klärungsbedarf, speziell wenn man sich mittel- oder langfristig auf sinnvolle Kategorien einigen will.
Sowohl von Kronthaler als auch von seinem anwesenden Forscher-Kollegen Eckart Sackmann wurde die Sorge geäußert, dass es durch den erfolgreichen Einsatz des Begriffs "Graphic Novel" als Werbemittel, wie er zur Zeit stattfindet, zu einer Deklassierung traditioneller Comic-Formate kommen könne, ungeachtet deren Inhalte. Bedenkt man allerdings, dass in den Vereinigten Staaten momentan alles als "Graphic Novel" beworben wird, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist, erweist sich die Besorgnis wohl flugs als unbegründet.
Im Gegenteil ist wohl eher damit zu rechnen, dass die momentane Inflation und Strapazierung des Begriffs über kurz oder lang dazu führt, dass sich das Verkaufsetikett "Graphic Novel" in seiner derzeitigen Erscheinung abnutzt und neueren, differenzierteren und damit - auch für die Werbung - dienlicheren Bezeichnungen weichen muss. (Von den bereits begonnenen, gigantischen Umwälzungen im Zuge der Digitalisierung, die sich kaum um vermeintliche oder tatsächliche Qualitäts- oder Inhaltsunterschiede schert, ganz zu schweigen.)
Als Fazit bleibt festzuhalten, dass Kronthalers Vortrag eine kurzweilige, erfreulich differenzierte und fundierte Grundlage für weitere Diskussionen zum Thema bot. Da es sich bei der "Graphic Novel", ganz gleich, was man nun darunter verstehen mag, noch um eine sehr junge Form handelt, werden diese sicher noch zahlreich folgen. Und, übrigens: Der von Kronthaler zitierte Danny Fingeroth bietet zwar eine Liste von 60 lesenswerten "Graphic Novels" in seinem Buch, klammert Superhelden dabei aber fast komplett aus. "Die wenigen Superhelden-Geschichten, die doch enthalten sind", schreibt er in der Einleitung, "interpretieren die gängigen Superhelden-Konv entionen ironisch oder anderweitig reflektiert und setzen sie als Stilmittel ein, um weitergehende Motive und Anliegen zu erforschen." Watchmen ist nicht darunter.
Nachtrag: Danny Fingeroth nimmt Watchmen zwar nicht in seine Liste auf, schreibt aber zum Stichwort "Alan Moore" auf Seite 219 seines Buchs: "Das kommerzielle Potential von Comics für Erwachsene wurde von Moores Watchmen bestätigt. Ursprünglich 1986 bis 1987 als zwölfteilige Miniserie [...] erschienen, ist Watchmen in seiner Konzeption eine echte Graphic Novel und kam kurz darauf in Buchform heraus. Watchmen trug mehr als jede andere Publikation zuvor dazu bei, das Format der Graphic Novel zu popularisieren." Wir bedanken uns für den Hinweis. mof
Korrektur: Dieser Artikel behauptete ursprünglich, Will Eisners A Contract with God stamme von 1976. Das stimmt natürlich nicht: Der Comic kam 1978 heraus. mofLabels: Comicfestival, Graphic Novels, Vortrag
posted by Marc-Oliver um 19:50 | Permalink